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Verdi, Verdi, ver.di

ver.di

Verdi, Verdi, ver.di – überall sehe ich den großen italienischen Komponisten vor mir; zumindest seinen Namen in großen Buchstaben. Jedoch keine Oper, kein Requiem und nicht einmal sein nahezu unbekanntes Streichquartett erschallt. Stattdessen vernehme ich monotones Geklöppel und monströses Gehämmer. Passend zu der unwirtlichen Geräuschkulisse kann natürlich auch mein Auge weit und breit keine italienische Lieblichkeit ausmachen, denn ich befinde mich nicht in der Staatsoper, sondern in der U-Bahn-Hölle und vor mir sitzt eine übermäßig füllige Frau mit einem Schlüsselband, das zwar sehr lang ist, aber trotzdem kaum ihren Hals umfasst, da eben auch der Umfang ihres Halses sehr, sehr groß ist.

Das Schlüsselband ist rot und bedruckt mit dem Namenszug einer Gewerkschaft. Verdi, Verdi, ver.di muss ich schon wieder denken. Etwas Orchesterlärm mit Pauken und Trompeten, schön und gut, aber dieses Gewummer ist zuviel. Aus dem offenen Kopfhörersystem der massigen Person schallt ein Lärm, der eher an das Zeitalter der Industrialisierung als an die große Oper erinnert und das quietschende Fahrgeräusch der sich in den Tunnelkurven windenden U-Bahn bei weitem übertönt.

Früher haben Gewerkschaften für ihre Mitglieder bessere Arbeitsbedingungen erkämpft – dazu gehörte sicher auch weniger Lärm in den Betrieben der Schwerindustrie. Davon ahnt die Kopfhörerträgerin nichts, während sie in der Bahn sitzend vermutlich vom nächsten Arbeitskampf träumt, um eine kräftige Gehaltserhöhung für den nächsten Besuch im Technotanztempel zu erstreiken, von dem sie dann einen Tinnitus davontragen wird, für den sie dann ihren Arbeitgeber verantwortlich macht, wegen des andauernden Lärms im Betrieb. Dann wird sie ihren Arbeitgeber mit der Unterstützung der Gewerkschaft vor das Arbeitsgericht ziehen und den Arbeitgeber auf Schadensersatz zu verklagen, wovon sich die Schwerhörige dann einen neuen MP3-Player, noch mehr Technodiscobesuche und ein tiefergelegtes Auto mit großen Boxen finanziert.

Ich empfehle, mal wieder in die Oper zu gehen.

7 Antworten auf „Verdi, Verdi, ver.di“

Wenn Du sie höflich darauf ansprichst, daß das Gewummer stört und sie doch bitte etwas leiser drehen möchte, wird sie wahrscheinlich extrem aggressiv reagieren oder schnippisch. Wenn Du Dich dann drohend vor ihr aufbaust und in einem Böses verheißenden Flüsterton sagst: „Stell das ab, sonst stell ich es ab!“ wird sie wahrscheinlich gehorchen.
Moral der Geschichte? Fällt mir gerade nicht ein.

Diese Geschichte hat etwas zu tun mit der Glaubwürdigkeit, die man braucht, um für gewisse Ziele einzutreten. Diese Frau macht sich jetzt nicht explizit schuldig, aber wenn sie wirklich in der ver.di ist, dann ist ihr Auftreten ein klein bisschen, ein ganz klein wenig Erosion für deren hehre Ziele. Die Geschichte gefällt mir wirklich sehr gut, auch wenn die Schwerindustrie von anderen Verbänden vertreten wird.

@Grenzquell: Natürlich vertritt ver.di Dientsleistungsbetriebe, aber ein Schlüsselband der IG-Metall hatte die Damen nun mal nicht um den Hals hängen.

Mir kam es ein bißchen so vor: Einerseits erkämpften Gewerkschaften in früheren Jahren bessere Arbeitsbedingungen, z. B. ein Lärmschutz für Arbeitnehmer und nun sitzt hier ein Gewerkschaftsmitglied in der Bahn und ruiniert sich absichtlich ihr Gehör. Das ist ein bißchen so, als würden demnächst Ärzte, Lokführer und Piloten ihre erstrittenen Gehaltserhöhungen geldsäckeweise in Gullys entleeren.

@bosch: IG-Metall. Ja, schon klar. Ich bin halt manchmal pingelig.

Zur Erosion trägt auch bei, wenn sich in der Gewerkschaft Leute sammeln, die einfach nur „mitnehmen“ wollen – und zwar Geld.
Das ist ganz schwierig zu begründen mit den Kopfhörern. Als ob der Postmaterialismus in einer Spätphase auch das Recht auf Selbstzerstörung mit sich bringt.
Der Arbeitgeber darf es nicht, aber ich als Individuum muss es tun dürfen.

Jetzt noch was zur IG-Metall. Ein Bekannter, zu einer Zeit IG-Metall-Mitglied, erzählte mir mal, früher sei die Gewerkschaft in seinem Betrieb für bessere Arbeitsbedingungen eingetreten, z.B. für Frauen die ihre Arme durch monotone Arbeit am Förderband stark belasten. Einige Jahre später, ich schätze in den 90er Jahren, interessierte dass einfach niemanden mehr – zumindest nicht in dieser Fabrik.
Vielleicht schließt sich da der Kreis wieder und man schottet sich mit zu lauten Kopfhörern von den unerfüllten Forderungen ab.
(Ich mag übrigens Gewerkschaften.)

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