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Tagebuch eines EM-Verweigerers Teil 1: Jetzt geht’s los

Jetzt geht es wieder los: Die angestaubten Fähnchen werden aus den Kellern geholt und an die blankgeputzten Kraftfahrzeuge montiert. Und auch die Plasmafernseher in den Kneipen, die in den letzten Monaten nur als Bildschirm für Kamin-DVDs dienten, rücken wieder in den Mittelpunkt des Bewusstseins. Selbst die Kanzlerin musste heute in einem ganzseitigen Interview in der Süddeutschen Zeitung ihre Liebe zum Fußball öffentlich bekennen, nur um ein paar Wählerstimmen zu gewinnen – nach der Wahl ist schließlich vor der Wahl.

Ansonsten vernünftige Menschen, die normalerweise nicht im Traum daran denken würden, ein Premiere-Abo abzuschließen, um ein paar verschwitzten Männern dabei zuzusehen, wie sie einem Ball hinterherlaufen, sind plötzlich wie ausgewechselt, und und finden es toll, dass es wieder überall Public-Viewings gibt, mit Bierständen, obwohl sie eigentlich sonst lieber Wein trinken, und dass die Kanzlerin jetzt auch ein Fußballfan ist und dass in den Kneipen endlich keine Kamin-DVDs mehr gezeigt werden. Dieses sportliche Großereignis lässt ansonsten kultivierte Menschen wochenlang mit Freunden und Menschen, die plötzlich zu Freunden werden, obwohl man mit ihnen unter normalen Umständen kein Wort wechseln würde, weil man sie verächtlich als Fußballprolls bezeichnet, in Kneipen vor Fernsehern hocken und Bier trinken und Gröhlen und Mitfiebern, und anschließend beteiligen sie sich an einem Autocorso und feiern ausgelassen ein großes Fest, eine bunte Party, ein fantastisches Ereignis, und man freut sich, dass alle Menschen Brüder werden, zumindest alle Europäer, weil es ja eine Europameisterschaft ist, und nach ein paar Wochen ist wieder Normalität, sprich Bundesliga, und sie interessieren sich nicht mehr auch nur ein kleines bißchen für verschwitzte Männer, die einem Ball hinterherrennen, selbst wenn die Nationalmannschaft zu einem Freundschaftsspiel in Timbuktu oder was weiß ich wo zu Gast ist. Das überlässt man den dann ehemaligen Freunden, die ein Premiere-Abo haben, und regelmäßig Bundesliga gucken und die die Abseitsregel im Schlaf erklären können und mit denen man zwischen Welt- und Europameisterschaften kein Wort wechseln würde, weil man diese Leute ja nicht als seine Freunde, sondern als gemeine Fußballprolls bezeichnet, denn sie besitzen eine Jahreskarte für den HSV, dem sie selbst zu Auswärtsspielen nachreisen, und interessieren sich nicht im Geringsten für die sympathischeren Kiezkicker von St. Pauli und haben außerdem in ihrer Musiksammlung alle CDs von Lotto King Karl, natürlich nur signierte Ausgaben mit persönlicher Widmung.

Mir ist das alles egal. Ich lehne Fußball ab – ob nun Europameisterschaft ist oder nicht. Mir macht es nichts aus, auch mal im Abseits zu stehen, aber ich muss ja im nächsten Jahr auch keine Bundestagswahl gewinnen.

22 Antworten auf „Tagebuch eines EM-Verweigerers Teil 1: Jetzt geht’s los“

Hmm, eigentlich interessiere ich mich auch nicht wirklich für Fußball. Bei Europa- und Weltmeisterschaften ist das aber dann doch anders …

Aber Hut ab vor Deinem konsequenten Standpunkt!

ich bin da irgendwo dazwischen,bei mir ist jeden samstag nachmittag wdr2 „heute im stadion“ aber selber hingehen tu ich seit ich so 16 bin nicht mehr.

em und wm sind einfach absolute ausnahmezustände da gibt es nix, aber diese public viewings sind nicht meins. man kann ehrlich fan und trotzdem kein freund der grölenden horde sein. es ist natürlich ein wenig zwiespältig den als kulisse würden sie schon fehlen die prolls …

Zwischen den Zeilen lese ich eine tiefe Abneigung, um nicht von Verachtung zu sprechen. Nun denn. Ich freue mich indes sehr auf die EM. Der einzige Nachteil ist nur, dass meine Mexikaner dort nicht teilnehmen dürfen. ;-)

Herr Bosch – ich kann Ihnen eine gute Nachricht überbringen – es gibt sie noch, die fußballfreien, schönen, ruhigen Orte die zum Verweilen einladen. Erst gestern wunderbare Stunden voller Muße erlebt. Liebe Grüße.

oh man, gut, dass es noch andere leute gibt, die absolut gegen fußball sind. ich dachte echt schon, ich wäre der einzige. alle leute sagen mir immer, ich könne ja wenigstens zur wm oder em meinenkreuzzug gegen fußbal unterbrechen und pause machen und mitgucken. andere anti-fußballer würden das ja auch machen.

alles heuchler, die ihr fähnchen nach dem wind hängen. ich tu mir so nen mist nicht an. man hat ja schließlich charakter.

Ich bin zwar nicht „absolut gegen Fußball“ – genau so wenig, wie ich „absolut gegen das Verspeisen grüner Seife“ bin, wers mag, bitte! Aber ich bin absolut gegen besoffenes Grölen und Randale. Ersteres hatte ich am Wochenende reichlich, unüberhörbar, unausstehlich. Fußballfans mögen bitte ihre Stimmen und meine Ohren schonen!

exakt, claudia, ich frage mich auch, warum man sich nicht einfach still freuen kann. vor ein paar jahren war ich zufällig zeuge, wie eine gruppe taubstummer in einer kneipe fußball geguckt hat. beim torjubel hörte man nur stühle rutschen. es war das reine vergnügen.

Dass Weintrinker während dieser Zeit zu Biertrinkern werden, kann ich eigentlich nur begrüßen. ;)

Aber ich kann Wein ja auch nicht leiden, ebenso wenig wie der Herr Bosch Fußball.
So schließt sich der Kreis. :D

Schön! So viele Rundlederverächter auf einen Haufen, das ist ja richtig kuschelig hier. Unsicher, mich als eines von wenigen Einzelschicksalen wähnend, kam ich her und ging mit neuem Stolz und der Gewissheit, in vielköpfiger und ehrenwerter Gesellschaft zu sein. Dafür Dank.

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