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Editorial

Parabel von der Angst des Zuwartenden vor der Anfangsverschlechterung

“Es hat keinen Sinn zu warten bis es besser wird,
das bißchen besser wär das Warten nicht wert“
(Die Sterne)

Mein rechter Arm schmerzt. Es ist kein unerträglicher Schmerz, der mich sofort in das überfüllte Wartezimmer eines Facharztes für Schmerztherapie treibt, sondern mehr ein unangenehmes Ziehen beim Strecken und Beugen. Auf einer Schmerzskala von 1-10 vielleicht eher eine 5-6. Stunden des Tages verbringe ich in  krummer Haltung vor einer Tastatur, trage in meiner Freizeit leidenschaftlich gern eine viel zu schwere Kameraausrüstung mit mir herum und des Nachts habe ich mir eine Schlafhaltung angewöhnt, bei der die Hand unter meinem Kopf liegt, was zu einem starken Abknicken des Armes führt. Auch ohne Ausübung eines Rückschlagspiels sind dies allerbeste Voraussetzungen für das Gedeihen eines Tennisarms. Unregelmäßig trage ich eine schmerzstillende Salbe auf – wie mir bewusst ist, eine eher halbherzige Behandlung. Im Großen und Ganzen setze ich auf die Therapieform des Zuwartens. Ich hoffe darauf, dass es durch Nichtstun besser wird. Man könnte sagen, ich bin ein Zuwartender.

Sie hingegen hat immer ganz genau auf die Signale ihres Körpers gehört. Routineuntersuchungen waren stets selbstverständlich und bei der geringsten Auffälligkeit hat sie unverzüglich einen Arzttermin vereinbart. Wenn es ihr gut tat, schreckte sie auch nicht davor zurück, alternative Heilmethoden auszuprobieren. Sie ist eine Interventionistin. Um die Unsicherheit über mein eigenes Handeln – oder besser gesagt Nichtstun – zu überspielen, habe ich sie dafür manchmal ein wenig belächelt. Ein Fehler, denn eigentlich wusste ich, dass ihr Weg, die Dinge anzugehen, der richtigere war.

In der Pharmakologie gibt es das Phänomen der Anfangsverschlechterung: In einem ungünstigen Behandlungsverlauf kann es zu einer Verschlechterung der Symptome kommen. Das heißt, man versucht, etwas zu verbessern, und zunächst einmal wird alles schlechter. Eine durchaus betrübliche Aussicht, die für den zwanghaften Zuwartenden keinen besonders großen Anreiz zum Handeln darstellt.

Während Sie mir immer wieder mit liebevoller Geduld zur Intervention riet, setzte ich auf Angst vor der Anfangsverschlechterung immer weiter auf das Konzept des Zuwartens. Ohne es überhaupt versucht zu haben, hatte ich vage Zweifel, ob eine Behandlung zu einem gewünschten Heilung führen würde. Zudem galt es, beschwerliche Hürden zu nehmen: Arzt finden, im Wartezimmer sitzen, umfangreiche Anamnese, langwierige Behandlung, Medikamente mit Nebenwirkungen, hohe Arztrechnungen. All das ohne Garantie auf einen Erfolg. Schließlich handelte es sich ja auch nur um ein scheinbar kleines Problem.

Irgendwann jedoch wurden die Schmerzen größer und waren nicht mehr auszuhalten. Ich wünschte, ich hätte rechtzeitig auf sie gehört, aber nun ist es zu spät. Vor kurzem wurde mein rechter Arm amputiert.

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