Luther und die Avantgarde

Erwin Wurm, Boxhandschuh, 2016
Nur 40 Minuten mit der Bahn von Berlin entfernt. Rund drei Stunden aus Hamburg. Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Kann man mal hinfahren.

Streetart von HERAKUT
Ganz schön herausgeputzt hat sich die „Lutherstadt“. Aber warum auch nicht? Schließlich ist es genau 500 Jahre her, dass Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche nagelte.

Keine Filmkulisse
Fast fühlt man sich hier wie in einer Filmkulisse. Allerdings in einem Film, in dem ausschließlich flanierende Senioren die Hauptrolle spielen. Luther konnte das damals noch nicht ahnen, sonst hätte er noch eine 96. These an die Kirchentür genagelt, eine gegen beigefarbene Jacken.

Olaf Metzel
Obwohl dem Protestanten oft eher Freudlosigkeit nachgesagt wird, macht man in Wittenberg dieses Jahr das große Reformationsfass auf. Fast ein Hauch von Goldgräberstimmung liegt in der Stadt. Sowohl der örtliche Barbier („Mit Luther zum Friseur“) als auch die lokale Sozialdemokratie möchte mit „Zeit für Martin!“ auf den Reformationszug aufspringen.

Während man durch die pastellfarbenen Gassen spaziert, könnte einem schon die Frage kommen, was mit dem reformatorischen Dorf passieren wird, wenn die Festspiele erst einmal vorbei sind?

Thomas Huber
Ganz schön ist dann aber bei allem doch zu sehen, dass der Kunst ein Platz eingeräumt wurde. Und das auch gleich an einem etwas abwegig erscheinenden Ort: im Alten Gefängnis.

Stephan Balkenhol
Gleich sechsundsechzig zeitgenössische Künstler zeigen hier in Zellen, Fluren, Treppenhäusern, im Hof und an der Fassade Werke, die entweder extra für die Ausstellung Luther und die Avantgarde geschaffen oder von ihnen für diesen wunderbar spröden Ort ausgesucht wurden.

Keine Kunst. Nur ein Baum vor der Gefängnisfassade
In der Ausstellung finden sich u. a. Werke von Markus Lüpertz, Olafur Eliasson, Erwin Wurm, Isa Genzken und Ai Weiwei. Der Reformator steht bei allem nicht als historische Figur im Vordergrund, sondern als Ideengeber. „Er hat Machtstrukturen hinterfragt, Missstände aufgezeigt und Reformprozesse angestoßen, die in alle Gesellschaftsbereiche gewirkt haben. Luther hat die Welt verändert. Wer ist heute Impulsgeber, Mahner und Neuerer? Wo steht die Kunst? Sind Künstler die gesellschaftliche Avantgarde unserer Zeit?“, heißt es im Katalog zur Ausstellung.

Wittenberg soll schöner werden
Fragen über Fragen. Die Ausstellung kann freilich nur der Versuch einer Antwort sein. Allein der großartige Kontrast zwischen Freiheitskampf und Gefängniszellen, die der Ort des Geschehens mit sich bringt, ist die Reise wert. Luther und die Avantgarde ist bis zum 17. September 2017 zu sehen. Die Fahrt nach Wittenberg lohnt sich. Auch der vielen Beigetöne wegen.

Die Reise zur Ausstellung erfolgte auf Einladung der Stiftung für Kunst und Kultur e. V. in Kooperation mit @thisaintartschool. Vielen Dank!

Die Innere Haut – Kunst und Scham

Clemens Krauss, Sebstportrait als Kind, 2017

Virgile Novarina, „En somme“ Nr. 44, 2017

Sarah Lucas, The Great Flood, 1996
Berlinde de Bruyckere, C. Reybrouck, 1999
Museum Marta Herford, Frank Gehry, 2005

Herford, der Name ist gemeinhin allenfalls dem geneigten Pilstrinker ein Begriff. Dabei beheimatet die ostwestfälische Kleinstadt ein Museum für zeitgenössische Kunst, das sehr viel besser ist als das von hier stammende Gebräu. Marta Herford ist der Name und als ich ihn zum ersten Mal hörte, bildete ich mir für einen kurzen Moment ein, dass es sich hierbei um eine schon in die Jahre gekommene Braumeisterin aus der Radewiger Feldmark handeln könnte. Aber weit gefehlt. Das Akronym steht für m für Museum, art = Kunst und a für Ambiente bzw. Architektur. Okay.

Mit all diesem Vorgeplänkel sollte man sich allerdings nicht weiter aufhalten, wenn man überlegt, ob es sich lohnt, einen Ausflug hierhin zu unternehmen, denn allein das von Frank Gehry entworfene Gebäude ist einen Besuch wert. Innen gibt es Kunst, derzeit läuf die Ausstellung „Die Innere Haut – Kunst und Scham“ mit Werken u. a. von John Bock, Louise Bourgeois, Rineke Dijkstra, Albrecht Dürer, Bruce Gilden, Nan Goldin, Juergen Teller und Erwin Wurm. Die Gruppenausstellung versammelt über 100 Werke von mehr als 50 Künstlern rund um Scham und Schamlosigkeit.

Das Gefühl der Scham kennt ja jeder, der nicht Donald Trump ist. Der Autor spürt es besonders dann, wenn er über Dinge schreibt, von denen er gar keinen Schimmer hat. Zum Beispiel Kunst. Deswegen erspare ich dem Leser hier weitere Ausführungen. Fahren Sie einfach nach Herford und schauen Sie sich die Ausstellung am besten selbst an. Sie ist noch bis zum 4. Juni 2017 zu sehen.

Café unter den Linden und Wilde Maus

Kakao mit Rum
Warum heißer Kakao und Rum neuerdings separat serviert werden, ist dem Autor ein Rätsel

Wer heute das erste Mal einen Fuß in die Freie und Hansestadt Hamburg setzt, der fühlt sich gleich bestätigt: Es regnet in Strömen. Und weil man bei diesem Wetter gar nicht anders kann, als einen heißen Kakao mit Rum zu bestellen, bestelle ich einen heißen Kakao mit Rum. Seit nun 24 Jahren gehe ich ins Café unter den Linden und zum ersten Mal werde ich von einer Bedienung gesiezt. Zwar bin ich älter geworden, aber noch nicht senil. Soweit ich mich erinnern kann, wurde im Café unter den Linden überhaupt noch nie jemand gesiezt.

Der Niedergang des Cafés begann vor etwa zehn Jahren. Zuvor konnte man sich stets darauf verlassen, von der Bedienung zumindest nachlässig behandelt zu werden. Irgendwann wurde eine den Gästen freundlich zugewandte Balletttänzerin eingestellt. Ab diesem Zeitpunkt wurden meine Besuche seltener. Aber immerhin kam die Balletttänzerin nicht auf die Idee, mich oder irgendeinen anderen der Gäste zu siezen: Nicht den Schnauzbart, der auf dem Uni-Campus antiquarische Bücher verhökert; den Redseligen, der immer am Personaltisch sitzt, obwohl er dort nicht hingehört; den ehemaligen Terroristen, der heute ein mexikanisches Restaurant betreibt; den Heini, der immer die Süddeutsche Zeitung bunkert, während er die Konkret auswendig lernt, und auch keinen der vermutlich auch heute noch immer fast täglich einkehrenden Schachspieler. Bislang konnte man sich immer darauf verlassen, dass unter keinen Umständen gesiezt wird, denn warum sollte es?

Ein wenig aus der Fassung gebracht schlürfe ich an meinem heißen Kakao mit Rum, und um mich ein wenig vom Siezgate abzulenken, belausche ich das Gespräch am Nachbartisch, wie ich es früher immer gern zu tun pflegte. Nebenan sitzen zwei mittelalte weiße Frauen, vermutlich machen sie irgendwas mit Soziologie, aber auf jeden Fall scheint es bei dem, was sie umtreibt, um die Verfassung einer akademischen Abhandlung zu gehen. A schriebe so, als benötigte sie kein Lektorat, so ihr Verlag. B durchschaut naturgemäß sofort, dass sich der vermutlich finanziell nicht sonderlich gut aufgestellte Wissenschaftsverlag mit diesem Lob vor dem Aufwand der Qualitätssicherung des Textes zu drücken versucht.

Und so geht es eine Weile hin und her etc., während A irgendwann bekennt „Mir fehlt ein Masternarrativ: Ein sauberes soziales Problem“ und B sofort begeistert zustimmt „Ja ja, man will die Checker willkommen heißen.“ A sagt, sie sei immer zu verkopft, was ich nach etwa fünf Minuten des flüchtigen Zuhörens – mich beschäftigt gedanklich noch immer das Siezgate – durchaus bestätigen würde. „Ich habe sie immer flexible Mittelschicht genannt“, so A. Und B fragt: „Was ist denn die eine Sache, wenn Du verdichten willst?“ A: „Man weiß nicht so viel.“ B: „Wenn man es weiß, dann denkt man so und so.“

Mir wird das Gespräch zunehmend egaler, aber ich bin der Meinung, dass A für ihre Publikation ganz dringend einen Lektor benötigt, weil ihre Gedanken wirr und B ihr offenbar keine allzu gute Hilfe zu sein scheint. Außerdem bin ich kurz froh, irgendwas mit Werbung zu machen, und mir ist schon fast egal, ob ich gesiezt werde oder auch nicht. Gern würde ich jetzt einen zweiten heißen Kakao mit Rum bestellen, aber die Uhr verrät mir, dass es an der Zeit ist aufzubrechen, obwohl es draußen noch immer regnet und ich dem Gespräch am Nebentisch noch stundenlang hätte zuhören können, obschon es mich im Kern nicht sonderlich interessiert.

Niemand kann beim traurig gucken so lustig sein wie Josef Hader

Ich mache mich also auf den Weg ins nahegelegene Studio-Kino, wo Josef Hader persönlich seinen neuen Kinofilm Wilde Maus vorstellt. Er spricht bereits vor der Filmvorführung, weil er später noch in einem anderen Hamburger Kino dieselben Antworten auf dieselben Fragen geben wird wie hier, aber das ist egal. Wie immer sagt er allerlei lustige Dinge, was alle von ihm erwarten, und er enttäuscht die Erwartungen niemals. „Heute ist Weltfrauentag. Aber am Film kann man ja nun nichts mehr ändern“, so er auf die Frage zu seinem Regiedebüt, die eigentlich schon gar nicht mehr so wichtig ist. In seinem nächsten Film würde er gern das Arschloch spielen. „Arschloch und Regie, das ist eine gute Kombination.“ Der Film ist lustig und traurig und sehenswert. Gehen Sie doch mal wieder ins Kino. Man sollte sowieso viel häufiger ins Kino gehen.

Bad Decisions

Deutsches Schauspielhaus, Hamburg

Eigentlich sitzt man im Theater ja gern in der ersten Reihe. Die schlechteste Entscheidung ist naturgemäß, sich in die erste Reihe zu setzen, wenn im Theater ein Film auf einer großen Leinwand gezeigt wird.

Der Film von René Pollesch heißt ‚Bad Decisions‘ und dessen Protagonisten bekommen nichts auf die Reihe, weder auf die erste noch auf die letzte, sie reden die ganze Zeit dummes Zeug, saufen und kiffen 92 Minuten lang und vollziehen dies mit überbordenden Theaterschauspielergesten.

Die Darsteller bauen seelenruhig einen Joint, die Kamera hält lange drauf, sonst passiert nichts. Eine Szene wie man sie aus dem Film ‚The American‘ kennt, in dem George Clooney mit der größtmöglichen Sorgfalt sein Gewehr auseinanderbaut, reinigt und wieder zusammenbaut.

„Man hört dieses Pop-Lied und es ist so richtig und es ist so falsch“, sagt einer der Darsteller, während die zwei Damen neben mir nach über 60 Minuten des gleichmütigen Ausharrens ganz plötzlich hektisch den Saal verlassen, um sich den Rest des Abends von ihrem Netflix-Abo berieseln zu lassen.

Immer wieder schweifen meine Gedanken kurz ab und ich denke, wie schön wäre es, wenn jetzt Chris Dercon in die Szenerie auf einem prächtigen Pferd hineinritte, was er aber nicht tut. Dann denke ich an mein eigenes Netflix-Abo und mögliche anderweitige Berieselungen und plötzlich ertönt ein Lied von The Smiths aus den Lautsprechern, was mich wieder etwas versöhnlich stimmt, und dann geht wieder alles von vorne los.

Als Morrissey zum dritten Mal singen darf, ist der Film zu Ende und ihm wird im Abspann nicht gedankt – noch so eine schlechte Entscheidung.