Laufvögel im Schanzenviertel

An Strauße dachte ich immer, wenn ich eine von ihnen sah. Mit ihren langen Beinen und dem stets etwas dümmlichen Gesichtsausdruck war die Ähnlichkeit mit den flugunfähigen Vogeltieren nicht zu übersehen. Sie hatten es nicht weit aus ihren Vordörfern in der Nähe von Winsen an der Luhe Bargteheide oder Quickborn und Pinneberg. Obwohl ihre Beine wirklich so lang waren, dass sie nur zwei, drei Schritte gebraucht hätten, um die nahgelegene Metropole zu erreichen, nahmen sie ausnahmslos den Linienbus des städtischen Verkehrsverbundes. Sie wunderten sich dann immer über die Busfahrer, die einander im Vorbeifahren freundlich grüßend zuwinkten. Sie fragten sich, ob auch hier in der Großstadt alle Mitglieder des unüberschaubar erscheinenden Busfahrerkollegiums miteinander bekannt seien und ob sich auch diejenigen Omnibuschauffeure grüßten, die eine gegenseitige Antipathie verband, oder ob eine solche im rastlosen Treiben des Straßenverkehrs keine Rolle spielte. Schließlich blieben den Fahrern oft nur Bruchteile von Sekunden, um eine Grußentscheidung zu treffen. Unmöglich war die Komplexität dieses Denkprozesses für ein Straußenhirn nachzuvollziehen.

Während der Fahrt trainierten sie abwechselnd ein verhaltenes Lächeln und ihren möglichst geheimnisvollen Abwesenheitsblick. An ihrer Zielhaltestelle angekommen, holten sie mit der rechten Hand zuerst einen Stadtplan aus ihren mit Vogue oder Cosmopolitan beschrifteten großen Taschen, deren Trageriemen immer möglichst lässig über einer Schulter hingen, während sie mit der linken Hand die Evian-Flasche zum rotgeschminkten Munde führten. Niemals benutzten sie Falk-Pläne, das hatten sie gelernt. Mit deren Patentfaltung kamen sie nicht zurecht und für einen Einmalgebrauch waren diese zu hochpreisig. Es wurde unförmiges Kartenmaterial in Form eines Ringbuches bevorzugt. Den Stadtplan drehten sie immer mit ihrer jeweiligen Laufrichtung, doch mehr Orientierung verschaffte ihnen die unablässige Neujustierung nicht. In ihren Heimatdörfern brauchten sie keine Karte, schließlich gab es dort nur Haupt- und Kirchenstraße. Nach dem richtigen Weg zu fragen, traute sich keine von ihnen. Stattdessen stakselten sie, nachdem sie im Taschenspiegel ihr Make-up bereits das dritte Mal innerhalb einer Viertelstunde kontrolliert hatten, in ihren hohen Stiefeln instinktiv in sämtliche ihrem Ziel entgegengesetzte Richtungen, den Stadtplan, als sei selbstverständlicher nichts auf der Welt, dabei immer wilder drehend. In Mailand, Paris oder New York würden sie sich so nie zurechtfinden.

Saal II

Neuerdings wird der Boden von dunkelbraunem Parkett geziert. Sonst ist alles wie immer in der früheren Bäckerei am Schulterblatt, dieselben Kacheln wie seit geschätzten hundert Jahren. Die Ganztagsfrühstücker nehmen die Jazzmusik im Hintergrund kaum noch wahr. Meistens läuft britischer Indierock oder Hamburger Schule. Die Bedienungsdamen legen zur Abwechslung hin und wieder die Best-of-Platte von Paolo Conte auf. Es gibt keinen WLAN-Empfang und nur selten klappt ein schrägfrisierter Ringelpulloverträger seinen mit einem stivollen Apfel verzierten Tischrechner auf.

Litfaßsäule Sternschanze

Littfaßsäule Sternschanze

Heute gefunden an einer Litfaßsäule auf der S-Bahn-Station Sternschanze. Was will uns der Schreiber dieses Plakates sagen?

Low Fidelity und die ganz dunkle Seite des Mondes

… oder: was macht die heilige Inquisition in einem Plattenladen?

Diese Szene spielt nicht in einem dieser neumodischen Plattenläden, die einen hellen Holzfußboden haben und in denen auch gebrauchte, aber gut erhaltene und widmungsfreie Bücher feilgeboten sowie Espressovariationen in großen Gläsern gereicht werden und in denen die Verkäufer immer so freundlich und frisch gebadet sind, dass der Endverbraucher generös darüber hinwegsieht, wenn gebrauchte Silberlinge gelegentlich – vermeintlich versehentlich – mit dem Neupreis ausgezeichnet werden.