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Provinz

Stets versuche ich, meine kleinstädtische Herkunft so gut es geht zu verbergen. Nicht nur, dass Gedanken an Kleinstädte in mir Beklemmungen auslösen, kratzen sie auch noch an meinem über Jahre mühsam aufgebautem Hanseatenimage. Dabei stammen die meisten Menschen, die ich kenne, leben sie nun heute in Berlin, Hamburg oder München, aus irgendeiner Art von Provinz. Gedanklich jedoch haben alle die Kleinstadt längst hinter sich gelassen. Auch ich kann nach einem halben Leben in der Urbanität sagen: Verdrängung findet statt, Verdrängung hilft, Verdrängung ist gut.

Manchmal ist es unvermeidbar und gewisse Umstände ziehen mich aufs Land. Das einzige, was noch schlimmer ist als Kleinstädte, sind Dörfer. An jeder Ecke riecht es verdächtig nach einer Mischung aus Schützenverein, freiwilliger Feuerwehr und Dung. Nach 18 Uhr kann man kein Bier mehr kaufen und schnelle Internetleitungen sind Mangelware. Kreuzen Bürgermeister, Pfarrer oder Landarzt den Weg, zieht man seinen Hut; das gehört sich so. Fremde werden mit Argwohn beäugt, sogenannte Fremdenzimmer indes sind in großen Mengen verfügbar. Natürlich sind alle Fremdenzimmer frei, wie es die Schilder in den unser-Dorf-soll-schöner-werden-Wettbewerbs-gepflegten Vorgärten verheißen, denn niemand will in einem Dorf seinen Urlaub verbringen. Abends trifft man sich bei Bier und Korn im Dorfkrug und morgens um fünf kräht der Hahn: tagein, tagaus. Bis auf den Tag, an dem Schützenfest ist – dann hängen überall bunte Wimpel und es gibt Blasmusik.

Ich muss in die Stadt. Sofort.


Weitere Fotos aus der Provinz gibt es hier.

22 Antworten auf „Provinz“

Bei mir ist es umgekehrt. Ich bin in Hamburg geboren und lebe jetzt in der Provinz. Dörfer sind auch mir ein Greuel. Meine Ehefrau stammt aus einem, und so läßt es sich nicht vermeiden ab und an zu Besuch ins Dorf zu fahren. Mich stören vorallem die ausgeprägten gesellschaftlichen Zwänge, den sich dort alle unterwerfen. Man muß am Sonntag in der Kirche gesehen werden, man geht natürlich in der Woche nicht ins Gasthaus zum Mittagessen usw.
Eines gibt es auf dem Lande allerdings, und das sind Fotomotive wie man sie auf Deinen gelungenen Bildern sehen kann. Nur muss man im Dorf meiner Frau sich immer erst mit dem Hausbestizer absprechen, bevor man ein Haus oder Teile davon fotografiert. Das macht man so …

Fotografisch war das besuchte Dorf für mich – zugegebenermaßen – ein mittelgroßes Fest. Diese dörfliche Tristesse war schon sehr eindrucksvoll, insbesondere der ungewohnte Kontrast zum gewohnten urbanen Umfeld. Zum Glück gilt die Panoramafreiheit auch auf dem Lande. Ich habe natürlich nicht gefragt, ob ich ein Haus oder eine Garage fotografieren darf. Der eine oder andere Dorfbewohner hat sich allerdings sicher ein wenig über mich gewundert und sich gefragt, was ich dort mache. Angesprochen hat mich allerdings niemand.

Also ich wohne (noch) in einer Kleinstadt, gehe, nein, ging (ha!) in einem Dorf zur Schule und werde bald in eine Großstadt ziehen. Letzteres sorgt dafür, dass mir im Moment eher die schönen Dinge am Kleinstadtleben auffallen. Dass mir die Kassiererin im Supermarkt (der „Wilger“ heißt und deutschlandweit nur zwei Filialen hat) zum Abitur gratuliert, dass meine Tante mir Eier von ihren Hühnern mitgibt, wenn ich sie besuche, und man immer bei irgendwem auf dem Hof feiern kann, wenn eine Fete ansteht. Wir haben ein Kino und einen großen Markt, der bis 22 Uhr aufhat, und finden das luxuriös – natürlich freue ich mich da aufs Großstadtleben. Aber ich freu mich auch jetzt schon aufs Nachhausekommen.

Ich bin ja inzwischen wieder völlig verdorft und finde das großartig. Allerdings gibt’s die allermeisten erwähnten Provinzscheußlichkeiten bei uns nicht. Mit dem bisschen Dung komme ich klar.

Ich bin sogar auf dem Dorf aufgewachsen. Das ist auch supertoll gewesen. Nur so mit 19/20 Jahren und Abi in der Tasche ist dann einiges ausgeschöpft und ich musste los in die Welt.
Allerdings weiß ich nicht, ob ich mich mit meinem Harburg-Seevetal-Winsen Einzugsraum so viel verbessert habe. ;-)
Tolle Fotos. Das interessiert mich wirklich. Aber ich könnte wirklich keine Fotos von meinem Dorf z.B. in meinen Blog reinstellen. Ich denke dann, einer findet die beim Surfen und denkt sich: „Ah, das ist doch H-Milch.“
Wahrscheinlich ist das großer Quatsch. Ich würde bestimmt 5 Jahre suchen, bis ich z.B. die zwei Fertiggaragen in NRW entdeckt hätte.

Äh, ja, Grefrath. Hatte ich dann auch gelesen. Der Wohnblock auf flickr ist toll. Ohne die Patina am Sichtbeton und den/ die hohen Bäume könnte das auch direkt aus dem Prospekt von 1965 kommen. Wenn man das mit Farbfilter aufnehmen würde … Kennst du den Film „Friedliche Zeiten“ ? Da haben sie so etwas gemacht. Kurz: Den Wohnblock in Grefrath finde ich schon wieder cool als Zeitzeugnis so wie du ihn fotografiert hast.

@h-milch: Du meinst diesen Film? Nein, nie gesehen. Auf YouTube ist leider auch nicht allzu viel davon zu sehen. Aber mit ein bißchen Entsättigung, Kontraste anheben und etwas Sepia-Tönung sollte der Effekt schon hinzubekommen sein. Aber wer will das schon?

dorf ist auf jeden fall speziell. darin aufzuwachsen, daraus rauszuwachsen und darin zurückzukehren. ich weiß oft nicht ob ich lachen oder heulen soll wenn ich eternitverkleidete häuser sehe mit diesen fensterfronten aus den achtzigern. deine bilder sind beklemmend, die in den häusern (und garagen) vermuteten schicksale sicher auch.

… wenn es in meinem Heimatdorf (in dem ich seit 2 1/2 Jahren nicht mehr wohne) wenigstens noch eine Dorfkneipe geben würde.

Aber sonst kann ich dir nur zustimmen. Nach spätestens 1 oder 2 Wochen muss ich da immer wieder weg. Und das, obwohl Städte von vernünftiger Größe (z.B. Dortmund und Münster) nur einen Katzensprung entfernt sind.

Ich bin Dorfkind und mag Städte nicht. Und bei Großstädten packt mich sogar oftmals der pure Ekel vor der Menschheit.

Aber fotografisch geben Städte viel her. Das fehlt mir manchmal, ebenso wie die Möglichkeit, spontan zu Konzerten zu fahren, ohne noch Zeit und Sprit für 140km mit einrechnen zu müssen. Aber ansonsten: klares Votum für Dorf. Man muss ja nicht in die freuwillige Feierwehr, die ist ja freiwillig.

So denkt und redet sich wohl ein jeder seine eigene Wohnsituation schöner, indem er naserümpfend auf andere zeigt. ;-)

@Der_Ohlsen: Wir haben ja Niederlassungsfreiheit – jedem steht es frei, vom Dorf in die Stadt zu ziehen und umgekehrt.

Fotografisch war ich angesichts meines Dorfausfluges relativ entzückt. Ich hatte nur eine halbe Stunde zum Fotografieren Zeit und dafür war es eine recht ordentliche Ausbeute. Ich glaube, es liegt an der Abwechslung. Jeden Tag Grefrath würde mir sicher auch schnell zu langweilig werden, aber das einmalige Vergnügen war toll.

Ich hab mein Heimatdorf lange für knipserisch uninteressant gehalten, weil man’s ja fast jeden Tag sieht… bis ich dann mal ein paar Monate lang eine große Mittelformatserie drüber gemacht habe. Das war sehr augenöffnend.
In einer Großstadt ist man natürlich noch etwas befreiter, wenn’s um das Ausnutzen der Panoramafreiheit angeht. Da sind die Ureinwohner Menschen mit Kameras wohl einfach mehr gewohnt und sehen nicht so schnell ihr Hab und Gut bedroht. ;)

@bosch: Berechtigte Frage. Wir springen wahlweise in die Neetze oder die Ilmenau. Oder wir warten auf die Feuerwehr aus dem zwei Kilometer entfernten Nachbardorf.

So schlimm sind Dörfer gar nicht, wenn man ihnen mit Strategie begegnet: Einfach den Ruf einer unfähigen Hausfrau kultivieren – schon wird man niemehr mit Kuchenbacken vor Dorffesten belästigt. Ab und an was total schräg-schrilles anziehen, dann wundert sich niemand mehr über Sonnenbrillen mit Mega-Gläsern. Und immer schön Hochdeutsch sprechen, dann ist man ohnehin der Exot, der alles darf. :-)

Schöne Grüße von der Landpomeranzin. :-)

20-30 Westberlin
30-40 Großberlin
40-50 Breidenstein
50- …Bad Laa
ist doch alles der gleiche Schmodder, egal wo, wie ist wichtig.

Eerouge

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