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Editorial

Myll, 17. August 2012

1207. Demonstration für Pussy Riot vor der russisch-orthodoxen Kirche am Holstentor. Etwa 100 Menschen sind anwesend, einige davon mit bunten Masken. „Free Pussy Riot“ rufen und den geballte Faust zeigen, wie es die Sängerin der Punkband tat, auf den Fotos, die um die Welt gingen. Dann ein Gruppenfoto für’s Internet, als Beweis, dass die Demonstration stattgefunden hat. Ein Mann singt ein Lied auf Russisch (naturgemäß muss ich dabei ans letztjährige Abgrillen denken), dann die Urteilsverkündung: Schuldig.

1957. Sommerfest der Jungen Union Hamburg. Bernd, der irgendwas mit Politik macht, schleppt mich in die gediegene Villa mit Garten am Fleet. Die Anwesenden sind bereits in jungen Jahren vollständig verspießt, man trägt Einstecktücher. Zwanzigjährige verpickelte Pfeifenraucher fürchten unter SPD-Steinbrück die Wiedereinführung des Sozialismus, während die Damen hübsche Kleider tragen und glücklicherweise wenig sprechen. Soundtrack in meinem inneren Ohr: Rocko Schamoni – C.D.U. („Du wählst CDU. Und darum ist jetzt Schluss …“) In der Villa überall Fotos von Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel, ich bleibe im Garten. Das Bier kostet einen Euro. Das ist nicht zu viel, um die Situation erträglicher zu machen. “

Habt Ihr schon unseren Vorsitzenden begrüßt?“ „Nein? Dann schnell hin zu unserem Junge-Union-Bundesvorsitzenden Philipp Mißfelder.“ Freue mich auch Jahre später noch über den Kurbjuweit-Artikel im Spiegel, der wohl eine der großen Politikervernichtungen der Nachkriegsgeschichte war. So etwas bleibt hängen. Mißfelder will sich nicht zusammen mit mir fotografieren lassen. Er hält mich wahlweise für einen Piraten (was ich nicht bin) oder für einen Mitarbeiter des Satire-Magazins Titanic (was ich leider nicht bin). Ein Foto in der Titanic hätte Mißfelders Beliebtheit in ungekannte Höhen katapultiert. Aber man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Flöte beim Verlassen der Party laut die Internationale.

5 Antworten auf „Myll, 17. August 2012“

Missfelder will sich nicht zusammen mit mir fotografieren lassen. Ein Gefühl des Unbehagens sich mit ihm fotografieren zu lassen würde man 85 werden. Unvergessen sein Argument. Nein, daran möchte man nicht später erinnert werden. Da könnte man im Krankheitsfall zu sich selber sagen: Totenschein in der Tasche, aber auf Kosten von Solidargemeinschaft künstliche Hüftgelenke beanspruchen wollen. Ist das Christlich?

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