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Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen – Mein Leben mit Tocotronic

tocotronic

Vorfreude ist immer das Schönste, sagt der Volksmund. Das stimmt nicht, wie das meiste naturgemäß nicht stimmt, was der Volksmund so sagt, sage ich. Jedes Mal, wenn ein neues Tocotronic-Album erscheint, habe ich vor allem Angst. Keine Meisterwerke mehr. Dann darf man das nicht lesen, all die Geschichten über anologe Te-Le-Fun-Ken-Vier-Spur-Ton-Band-Ma-Schi-Nen usw. Gebt der spexigen Musikjournaille und dem FAZ-Feuilleton ein paar Wochen vor dem VÖ-Datum etwas psychoakustisches Geschwurbel mit auf den Weg und füttert sie mit Geschichten von der Anmut der Theremin-Spielerin aus New York, die die neuen Lieder mit ihrem berührungslosen Instrument klanglich veredelt hat. Mit Digital ist besser waren billige Casio-Uhren gemeint, keine Tonträger, und trotzdem kann die Generation MP3-Player den ganzen neuen Spuk auf ihren datenkomprimierten Dateien gar nicht mehr wahrnehmen.

Ich möcht‘ kein Lo-Fi-Spießer sein, hieß es früher. Heute lustwandelt Dirk von Lowtzow mit Theatermann René Pollesch für den Kultursender Arte durch die Nacht und zeigt ihm die gemütliche Küche seines Tonstudios oder steht mit verklärtem Blick neben Thies Mynthers Konzertflügel, um mit dem Nebenprojekt Phantom/Ghost manierierten Kammerpop zu produzieren. Ich verachte Euch für Eure Kleinkunst zutiefst. Unterdessen hat Dirk graue Haare bekommen und die Trainingsjacke durch ein frisch gebügeltes weißes Oberhemd ersetzt. Aber eines mit gestärktem Kragen. Gab es in der Hamburger Schule noch Bier als Pausenbrot, trinkt man heute bevorzugt französische Schaumweinprodukte in Berliner Elite-Universitäten. Als mich vor gut einem Jahrzehnt eine Freundin betrunken vor dem Golden Pudel Club als arriviert bezeichnet hat, konnte sie nicht ahnen, was irgendwann aus Dirk werden würde. Und so steht es längst im Duden unter „arriviert“: Dirk von L., einst Teil einer Jugendbewegung, heute angekommen in der Selbstzufriedenheit. Der Vergleich ist eher schief als eben.

Vor der jüngsten Veröffentlichung gab es 99 getwitterte Thesen, in denen wir erfahren dürfen, dass Dirks sexuelle Präferenz „plüschophil“ ist, und Interviews, in denen er sich dazu bekennt, an Autobahnraststätten Plüschtiere gegen Münzeinwurf mit Greifarmen aus Glaskästen zu befreien. „Wie wir Leben wollen“, heißt das neue Album. Die Frage nach dem Ob oder dem Warum stellt man längst nicht mehr. Gleich zu Beginn des 10. Albums säuselt es uns „Hey jetzt bin ich alt. Hey, bald bin ich kalt“, entgegen, während der mittlerweile 66jährige David Bowie nur wenige Wochen später sein ohne großes PR-Tamtam veröffentlichtes Album mit den Worten „Here I am, not quite dying“, aufschlägt. Wozu noch 99 Thesen, wenn das Erkalten schon zu fühlen ist? Ach, Dirk. Ich mag Dich einfach nicht mehr so.

Aber wann hat es eigentlich angefangen, dass wir nicht mehr nebeneinander auf dem Teppichboden sitzen? Als ich Tocotronic 1994 das erste Mal im Hamburger Kleinclub Logo für eine handvoll D-Mark gemeinsam mit etwa fünfzig anderen Leuten hörte, ahnte ich noch nicht, dass ich irgendwann mit Menschen meiner Generation ganze Konversationen in Tocotronic-Zitaten führen könnte. Zu Zeilen wie „Gitarrenhändler, Ihr seid Schweine, Gitarrenhändler, ich verachte Euch zutiefst“ habe ich mehr Abwandlungen entwickelt als Bach zu seinen Goldberg-Variationen. Wenn ich nicht wusste, wie ich einem Mädchen meine Zuneigung gestehen sollte, sagte ich ihr „Du bist der Jackpot meines Lebens“ und selbst heute mache ich mir gelegentlich den Spaß, in geschäftliche Zusammenkünfte ein lakonisches „die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ zu schmuggeln. Noch immer vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht frage, ob die Leute auf der Straße eigentlich absichtlich so langsam gehen, oder wie das Unglück zurückgeschlagen werden muss. Kein Song kam ohne „Hammerzeile“ (vgl. Robert Gernhardt, Essener Poetikvorlesungen, 2002) aus.

2002 erschien das Album „Tocotronic“, das sogenannte weiße Album. Zwar musste noch alles im Überfluss vorhanden sein, aber irgendwie wurde es plötzlich metaphorischer. Schatten werfen keine Schatten usw. 2005 dann „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Als das Video zu „Aber hier leben, nein danke“ in der Hamburger Parkanlage Planten un Blomen gedreht wurde, war es so unwirtlich nass und kalt, dass ich vor Beginn der Aufnahmen den Ort des Geschehens verließ. Auch Eine Suppe aus der Gulaschkanone und ein Bier aus der Flasche konnten mich nicht zum Bleiben bewegen. Alle meine Freunde, die die Drehprozedur über sich haben ergehen lassen, und begeistert zur Single-Auskopplung gehüpft und getanzt haben, wurden später herausgeschnitten. Am 15. März 2005 habe ich die Band zum letzten Mal live gesehen. Ich saß auf der Galerie und war etwas verstört angesichts der stagedivenden Jugendlichen, die zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Digital ist besser“ gerade einmal den Hamburger Kindergarten besuchten. Ich war ganz schön bedient.

Dann „Kapitulation“, das schönste Wort in deutscher Sprache, wie es im mitgelieferten Manifest hieß. Noch immer erwarb ich brav die limitierte Edition des Albums. Als das dazugehörige Band-T-Shirt (vorn „Kapitulation“ grün auf schwarz, hinten VÖ-Datum, irgendwann 2007) allerdings nach einmaligem Waschen einlief, wanderte es umgehend in die Altkleidersammlung. Sag alles ab, geh einfach weg.

Und während die ehemaligen Mitschüler Blumfeld von sperrigen Titel „Von der Unmöglichkeit nein zu sagen, ohne sich umzubringen“ hin zur Aufzählung von Apfelsorten meine Generation degenerierten, machten sich Tocotronic auf den entgegensetzten Weg. Plötzlich war es nicht mehr einfach Rockmusik. Einhergehend mit der lyrischen Verschwurbelung wurde musikalisch aus dem Geschrammel der Anfangsjahre ein zunehmend symphonisches Werk. Ich weiß nicht, wie konnte das geheschen. Die Welt kann mich nicht mehr verstehen. Blumfeld lösten sich 2007 auf („Kein Lied mehr“), konsequent, dachte ich. Toctronic machen weiter, wie alles immer weiter macht. 2010: „Schall und Wahn“, noch einmal eine Limited Edition gekauft, ein bißchen oszilliert, Shakespeare und Faulkner referenziert und was von dieser Platte blieb, ist vor allem der das Cover zierende Blumenstrauß, während die Textzeilen längst verwelkt sind.

Aber ich bin nicht nur gekommen, um mich zu beschweren. Tocotronic haben sich als Band weiterentwickelt. Und das ist gut. Sie werden nicht wie die Rollenden Steine auch als Greise in zwanzig Jahren noch dieselbe lächerliche Bühnenshow abziehen wie sie es vierzig Jahre zuvor getan haben. Tocotronic waren eine der ersten Bands, die anspruchsvolle Musik mit deutschsprachen Texten verbanden und sie werden unpeinlich bleiben. (Weder das eine noch das anderen ist ihren Vorgängern der Neuen Deutschen Welle gelungen.) Was macht es schon, wenn der eine oder andere Fan aus alten Tagen auf der Strecke gebleiben ist? Gott sei dank haben wir beide uns gehabt. Schließlich sind viele neue Anhänger dazugekommen. Auch wenn mir die vielleicht Begeisterung früherer Jahre fehlt, so verfolge ich das tocotronische Schaffen noch immer mit dem größten Interesse. Ich kaufe keine limited Editions mehr, ärgere mich aber trotzdem, wenn iTunes am Veröffentlichungstag um 0 Uhr nicht den Download zur Verfügung stellt. Ich will nicht sein wie meine Eltern, die noch heute der Beatles „She Loves You“ noch immer für eine größere Errungenschaft halten als das Weiße Album. Im Blick zurück entstehen die Dinge. Vielleicht werden wir in einigen Jahrzehnten das Spätwerk auch mehr schätzen als die frühen Alben? Ich werde auch künftig vor jedem neuen Toctronic-Album Angst haben und mich auch ein bißchen darauf freuen. Die neuen Lieder können keine alten Freunde werden, aber noch immer gute Bekannte. Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen. Und ich glaub nicht daran, dass ich jetzt noch mal umkehren kann.

27 Antworten auf „Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen – Mein Leben mit Tocotronic“

auch ich habe in planten un blomen bei bier und gulasch gefroren und auch mir ist nix egaler als die letzten alben. obwohl ich mich dennoch etwas gefreut habe, als ich reinhören konnte, aber nur etwas..wirklich..ein wenig

@N. Ich weiß. Aber das ist meine Variation. (Ich habe einst mit einem Freund eine lange Diskussion darüber, ob „schon“ nicht schöner wäre als „viel“. Wir fanden schon „schon“. Deshalb zitiere ich frei.)

ich find den ganzen text irgendwie ziemlich nörgelhaft und dabei wenig konstruktiv. dass früher alles besser war und tocotronic doch auf ‚digital ist besser‘ einfach mehr punk war, ist ja eine binsenweisheit. dass ‚dirk graue haare bekommen hat und keine trainingsjacken mehr trägt‘ finde ich jetzt auch nicht besonders beängstigend.
ich halte die letzten paar alben auch nicht für die gelungensten. fände es aber auch etwas peinlich, wenn tocotronic auf dem niveau von ‚digital ist besser‘ und ‚es ist mir egal, aber‘ stehen geblieben wären. auch wenn mir diese alben damals mit 15, 16, 17 jahren unglaublich getaugt haben.
von ‚wie wir leben wollen‘, war ich allerdings relativ überrascht und vor allem vom sound ziemlich begeistert. hast du denn mal genauer reingehört? man muss sie ja unbedingt auf dem mp3-playser anhören …

Schön geschrieben, man liest die Leidenschaft für diese tolle Band heraus. Es ist wohl verständlich, dass sich das Verhältnis zu einer Band in einer so langen Zeit ändert – so wie es die Band tut und wie man es selbst tut. Die Songs hatten früher mehr Kultpotenzial (die berühmten T-Shirt-Sätze …), aber dafür haben die Lieder jetzt mehr Strophen :D
Ich gehöre wohl zu denen, die zu „Digital ist besser“-Zeiten noch im Kindergarten waren ;) Nächste Woche sehe ich die Tocotronen zum ersten Mal live – und bin sehr gespannt.

Danke!
Danke!

Danke.

Aus meines Herzens Herzen: Danke!

(P.S.: Die Frau, die ich in etwas mehr als zwei Wochen heiraten werden, hat von anfang an, keinen Hehl daraus gemacht, dass die Tocotronic nicht mag, und trotzdem hat sie mir zum Geburtstag zwei Karten für ein Konzert geschenkt. Eine für mich, eine für sie. Und – quasie zur Vorbereitung – hat sie das neue Album hier mehrfach erdulden müssen, hatt schließlich angefangen „Abschaffen, abschaffen, ab-scha-ffen“ mit zusingen, und letzte Woche hat sie dann angefangen, selber mehr zu recherchieren und sich die alten Lieder anzuhören, nicht ohne Freude und wachsendes Interesse daran … ich freue mich schon seeehr auf die Hochzeit )

Hier meine eher ungewöhnliche Geschichte: Ich bin ein paar Jahre jünger (jetzt: 21) und habe meine Teenager-Jahre zu großen Teilen vor dem Computer verbracht, so dass ich zu Tocotronic wohl erst mit 16 fand. „Kapitulation“ war dann mein Einstieg und ich halte das Album nach wie vor für ihr Bestes (na ja, vielleicht auch K.O.O.K). Ich habe mich sehr lange vor den frühen Alben gescheut, aber irgendwie haben die sich dann doch eingeschlichen und so kann auch ich Gespräche in Tocotronic-Zitaten führen. Dennoch habe ich durch den zufälligen, zeitlich bestimmten Erstzugang über das „Spätwerk“ einen anderen Blick, der die frühe Phase eben ganz deutlich relativiert.

Dennoch: ich habe eine gefühlte Ewigkeit gebraucht, um mich an „Schall und Wahn“ zu gewöhnen und werde jetzt ebenso lange brauchen, um das neue Album in mich aufzunehmen. Eine Beobachtung, die ich gemacht habe ist, dass das wirkliche Verständnis, die Übernahme der Albumwelt in die eigene immer völlig unbewusst, sehr verworren und: ohne unbedingtes Hören der Musik kam. Ich habe so z.B. „Schall und Wahn“ wahrscheinlich nicht wirklich oft gehört und doch kommen mir in letzter Zeit ab und zu Versatzstücke verschiedener Lieder in den Sinn. So lernte ich die Musik über einen intransparenten Nachreifungsprozess lieben, ohne sie je gern gehört zu haben. Das tue ich erst heute.

Danke. Ja, das klingt auch prima. Sich alles auf einmal zu erschließen, ist natürlich ein probater Weg. (Was natürlich nicht mehr geht, wenn alles schon so lange kennt und den vergangenen Tagen hinterherliebäugelt.)

Sicher, ich darf mir wohl nicht anmaßen zu urteilen; lernte ich doch gerade erst sprechen, als Tocotronic begannen, Musik zu machen. Aber warum eigentlich nicht? Zwei funktionierende Ohren hab ich und ich hatte auch eine wilde Jugend; mit alten und neuen Alben. Ich konnte zwar nicht mitverfolgen, wie Tocotronic größer wurden, konnte sie nie für’n paar Mark in kleinen Hamburger Nachtclubs sehen. Jedoch: Ich hatte und habe noch immer alles auf einmal: Freiburg und Aber hier leben, Michael Ende, du hast mein Leben zerstört und Bitte oszillieren Sie, Nach der Verlorenen Zeit und Jetzt geht wieder alles von vorne los. Deswegen vielleicht scheint mir auch bei den neuen Platten: This band is tocotronic.
Mir erscheint es so unpassend, Angst vor neuen Alben einer großartigen Band zu haben. Oder wirst du dich nie verändern, wirst immer der Selbe sein?

(Kann man hier auch kommentieren? Antworten will ich nicht.)
Ich war ein bisschen zu jung, hatte aber ältere Freunde und war dadurch ganz ernsthaft in Dirks Stimme verliebt. Wie er da so säuselte. Auf den Konzerten störte ich mich dann manchmal an den spießigen ‚älteren‘ Hörer. Astra trank ich nicht. Irgendwann wechselte mein Freundeskreis und Tocotronic verabschiedete sich aus dem Alltag. Ich behielt alle Alben und zog mit ihnen um.
Am Wochenende gehe ich zum Konzert. Nicht mit Freunden, aber mit meiner Mutter. (‚Das sind ja wunderbare Texte.‘)
Danke für die Zusammenfassung, Bosch! Stay toco.

Danke für die Worte zu meinen Gedanken. Wobei es bei mir bei den letzten Alben weniger Angst als steigende Gleichgültigkeit ist. Der Rest passt aber sehr gut.

ich glaube ,es spielt eine rolle ab wann man eingestiegen ist .anders als bei blumfeld habe ich nie diesen starken bruch gesehen.die ersten
drei alben hatten noch diese postpupertäre kraft .später wurden die griffigen slogans und guten Sätze abgelöst durch metaphorische
beschreibungen.allerdings kann auch in dem neuen album der hang zu griffigen sätzen nicht ganz unterdrückt werden.
.ich sehe leider keine andere deutschsprachige band die sich mir als alternative anbietet.

WOW! zählt man die beachtlichen Antworten, dann kommt man zu dem Schluß: Lieblingsdiktator nicht…Peer nicht…Papst nicht… aber TOCOTRONIC! WOW!

Leider ändert sich alles im Leben und nichts ist eine wirkliche Konstanze. So ist es leider auch bei der Musik, es gibt viele Beispiele die zeigen das die Musik von früher in meinen Augen einfach um ein Vielfaches besser ist als heute.

Doch ich beschwere mich nicht, sondern höre einfach wieder die Lieder aus den guten alten Zeiten.

Wo vieles recovered waren/sind? Mein Sohn, als er klein war und im Römersitz saß, da hatte ich, wenn wir mit dem Auto unterwegs waren alles auswendig mitsingen können. Für ihn war die Musik immer modern. Das war nicht schlecht, denn so konnte man Kiddys auf entspannter Weise fördern, fand ich.

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