Man muss sich schon etwas einfallen lassen heutzutage. Während Frau Berg liest, springt zeitgleich irgendwo ein Fallschirmspringer aus über 36.000 Metern Höhe herunter, ohne dass ihm ein koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk dabei Flügel verleiht. Weltrekord. Die dieses Ereignis im Internet verfolgt habenden Menschen werden später zu Protokoll geben, dass sie sich dabei gefühlt haben, wie einst ihre Eltern, als sie am Schwarz-Weiß-Fernseher die Übertragung der Mondlandung sahen.
In einer ehemaligen Kranfabrik in Hamburg sitzt Sibylle Berg und liest aus ihrem neuen Buch „Vielen Dank für das Leben“ und sie liest natürlich nicht einfach nur Seite für Seite vor, denn das könnte man ja auch selbst machen, ohne dafür 18,- Euro Eintritt bezahlen zu müssen, sondern sie bietet einen sogenannten Mehrwert in Form eines Gesamtkunstwerks: Szenische Lesung trifft Filmkunst trifft Musik. In verteilten Rollen liest die Autorin, die, so sie, mit Antibiotika vollgepumpt ist, gemeinsam mit den Schauspielern Katja Riemann und Matthias Brandt, und das ist gut, denn so ermüden weder Sprecher noch Publikum. Auch wenn man den Roman bereits kennt, ist das Zuhören ein Vergnügen, denn der gekonnte Vortrag ist natürlich auch eine Kunst, von der mich lediglich meine Sitznachbarin, die auf ihrem Telefon unablässig „Snake“ spielt, abzulenken vermag. Zwischendurch immer wieder großartig verstörende Filmeinspieler in schwarz-weiß, aufgenommen mit einer ruckelnden Handkamera, die das soeben Gehörte noch einmal rekapitulieren. Und wunderbare Musik von Mary Ocher, die das Klavier genauso unbeholfen bearbeitet wie die Gitarre, und die mit ihrer Stimme, über die meistens ein blecherner Filter gelegt ist, mal sanft haucht und mal kraftvoll brüllt. Finale mit Streichquartett, das so anrührend ist, dass mir die Tränen kommen. Toll.
Und dabei wollte ich erst gar nicht kommen, weil Lesungen mich zunehmend langweilen, aber Frau Berg rief, das heißt, eigentlich schrieb sie, dass ich kommen solle, und dass es doch schön wäre usw. Und natürlich war es das dann auch. Artig stehe ich im Anschluss der Veranstaltung in der Schlange, um mir mein Buch signieren zu lassen. Warum mir ständig die Frauen wegliefen, fragt Frau Berg ohne Umschweife und mit strengem Blick, aber zum Glück bin ich nicht der Letzte in der Autogrammwunschschlange und habe deshalb keine ausreichende Gelgenheit, eine ausführliche Antwort geben zu müssen. Nachdem sie bei unserer letzten Zusammenkunft zum Auswandern nach Island riet, schreibt mir Frau Berg ins Buch, dass ich nach Schweden gehen solle, weil dieses Berlin, wie sich gezeigt habe, auch keine Lösung sei, und weil in Schweden alle so schön seien usw. Dann Bier aus Flaschen mit Menschen und nicht losgehen wollen, aber irgendwann doch müssen. Vielen Dank für den Abend.