Deichkind, 24.08.2024, Parkbühne Wuhlheide

Deichkind am Samstag: Leider geil. Die Musik, die Show, die
t-shirt-wetter-warme Nacht, die großartige Parkbühne Wuhlheide weit draußen am Rande von Berlin – alles passt und ballert in perfekten Maßen, ganz ohne am Folgetag aufgeregte Erdbebenmessungsmeldungen in der lokalen Kulturpresse hervorzurufen. 

Mittags vom meinem Glück noch nichts ahnend einen Kaffee in einem für mich abseitigen Viertel der Stadt, in das ich mich tatsächlich immer nur widerwillig begebe, zu mir genommen und dort den mir aus Hamburg lediglich vom eher flüchtigen Moinsagen bekannten La-Perla-Henning aka DJ Phono getroffen. Was machst du hier? Wir spielen heute abend in der Wuhlheide. Cool. Komm doch rum. Okay. Und schon stehe ich völlig überraschend auf der Gästeliste mit Aftershowpartytamtam. Ein feiner Zug, das, ganz wunderbar.

Die Hamburger Hiphopelectropunkkapelle ja immer nur aus der Ferne, wenn auch mit größerem Interesse verfolgt habend, ohne je überschwänglicher Fan gewesen zu sein, hat mich das Bühnenspektakel angenehmst affiziert. Das Fass, das Boot, aber vor allem auch die kleinen schelmischen Choreografien, während der die Bühnencrew anarchisch auf Bürostühlen hin und her rollte oder marypoppinsgleich Regenschirme schwenkte, toll. Musik, Text, Show, alles ganz fein erdacht und hintersinnig. Okay, ich gebe zu, ich war schon ein bißchen geflasht. Danke, Deichkinnings.

Drei Dinge und ein Hund

Nicht, dass es nichts zu sagen gäbe, in bewegten Zeiten wie diesen. Aber doch nicht unbedingt von jedem und schon gar nicht von mir.

Um in der Seit 2006 andauernden Geschichte dieses Blogs das Jahr 2023 nicht zu dem ersten Jahr werden zu lassen, in dem hier kein einziger Beitrag erschienen ist, blicke ich kurz zurück auf das in wenigen Stunden abgelaufene Jahr. Persönlich und versöhnlich.

Schach

Nicht dass ich eine besondere Begabung für das königliche Spiel hätte. Aber zu meinem Erstaunen habe ich seit Beginn dieses Jahres eine einigermaßen große Faszination entwickelt. Ich weiß nicht mehr, wie es begann, aber es war online und irgendwann zog es mich dann in das Rabbithole und ich schaute eine zeitlang mehr Theorie-Tutorials auf Youtube und Twitchstreams von Schachfluencer:innen als alles andere.

Zufällig entdeckte ich, dass in der Hamburger Zentralbibliothek jeden Montag eine öffentliche Schachrunde, das „Schachdeck“ stattfindet. Da war ich sofort dabei und wann immer ich Zeit habe, gehe ich dort hin. Am Brett ist es doch noch einmal ein ganz anderes Spiel als online. Allein schon, weil alles in vollkommen ungewohnter 3D-Ansicht stattfindet.

Hier habe ich M. kennengelernt, einen pensionierten Mathe- und Lateinlehrer, der früher ein sehr starker Vereinsspieler war. (Er hat alles schon gesehen und mit ihm kann ich während des Spiels mögliche Züge diskutieren.) Und A., der aus Syrien stammt und in der Bibliothek an Deutschkursen teilnimmt. Und Y., der erst 12 Jahre jung ist, aber das Potential hat, eines Tages Großmeister zu werden, wenn er will. Außerdem den Seemann, der früher viel auf dem Schiff spielte, den Onlinespieler, der sich an malignen Fallen erfreut und in seiner Schule Schachtraining gibt, die ältere Dame, die bei einem Ideenwettbewerb zur Stadtverschönerung öffentliche Bodenschachspiele vorgeschlagen hat, aber selbst noch keinen einzigen Zug beherrscht, die Studentin, die alle Schachstreamer:innen bingt, den russischen Obdachlosen, der immer eine Fahne hat, und viele andere Menschen, die oft nur zufällig vorbeikommen, eine Partie spielen und dann nie wieder gesehen werden.

Manchmal spiele ich in Parks oder vor einem Berliner Späti. Überall auf der Welt kann man sich mit Menschen einen Tisch setzen und eine Partie spielen. Die Regeln sind einfach zu lernen. Und doch ist die Komplexität des Spiels schon nach ein paar Zügen für mich oft kaum noch zu durchdringen. Meistens verliere ich. Obwohl prinzipiell alle Spieler:innen dieselben Chancen haben; alle Informationen zur Verfügung stehen. Das Scheitern an der eigenen Dummheit macht demütig. Ich spiele weiter.

Spaghetti, Omlette und Apfelkuchen

Nicht dass ich ein besonders guter Koch geworden bin. Denn eigentlich esse ich lieber als am Herd zu stehen. Aber die einfachen Dinge haben es mir in diesem Jahr angetan: Spaghetti Carbonara. Und Cacio e Pepe, was sogar noch einfacher ist.

Das Tolle daran: man braucht nur wenige, aber gute Zutaten. Und ein bißchen Inspiration von TikTok und YouTube.

Ein perfektes Omelette ist in der Mitte cremig und wird geschickt eingerollt, sagt der Omelette-Gott und ich folge seinem Rat.

Sogar einen Apfelkuchen habe ich dieses Jahr ein paar Mal erfolgreich gebacken. Und Pancakes werden mit Buttermilch am fluffigsten. Hurra.

Kino

Nicht dass ich mich als Cineast bezeichnen würde. Aber in diesem Jahr war ich wohl so oft wie nie zuvor im Kino. Das war meistens schön, vor allem, weil man für zwei bis drei Stunden komplett abschalten kann. Auch die Verbindung zum Internet.

Besonders wunderbar natürlich die Filme: Anatomie d’une chute und Die Theorie von allem. Kritiken gibt es überall, wo es Kritiken gibt.

Notiz an mich selbst: Weiter antizyklisch ins Kino gehen. Kinotage mit Rabatten und Stoßzeiten an Wochenenden sind unbedingt zu meiden.

(Und: Oppenheimer > Barbie.)

Ein Hund namens Willy

Nicht dass ich je das Bedürfnis hatte, einen Hund haben zu wollen. Aber nun ist er da und das ist dann doch ganz schön. Meistens jedenfalls.

Willy ist nun fünf Monate alt. Seitdem er da ist, gehe ich zu Zeiten und/oder Wetterlagen aus dem Haus, die mir sonst im Leben nicht eingefallen wären. Meine Jackentaschen sind ausgebeutelt von Leckerlis, Kackbeuteln und Taschenlampe. Zum Dank schleckt Willy mir als Zeichen seiner Zuneigung sanft die Hand. Hach.

Häufig schaue ich nun Hundetrainervideos und denke oft an Harmtut Rosas Resonanzgedöns.

Ausblick 2024

Wie soll das alles weitergehen? Ich weiß es doch auch nicht.

Smartphone killed the Telefonzellen-Star

Nach langem Suchen hat der Autor endlich noch eine echte Telefonzelle gefunden, wenn auch keine gelbe. Diese wurden bereits 2019 außer Dienst gestellt.

„Wann hast du zum letzten Mal etwas zum ersten Mal gemacht?“ fragt die gemeine Carpe-Diem-Quatschnase gern. Und da die Gesellschaft sich gerade so schön am Aufspalten ist, hatten Menschen, die lieber vor Vanitas-Stillleben verweilen und dabei hoffen, dass sich der Ausspruch „Jedem Ende wohnt ein Zauber inne“ durchsetzen möge, jetzt die Gelegenheit, finally, eine Sache zum letzten Mal zu tun. Und zwar Münzen in einen öffentlichen Fernsprecher zu werfen, um sodann ein fernmündliches Gespräch zu beginnen.

Seit der Ankündigung, dass am 21. November 2022 mit diesem nunmehr 142jährigen Brauch unwiderbringlich Schluss sein werde, hat sich das Ende der Ära des Münzfernsprechers zu einem feuilletonistischen Topos ungeahnten Ausmaßes entwickelt. Obschon seit Jahrzehnten kein Feuilletonist mehr in einer Telefonfelle gesehen wurde, beklagt die Qualitätspresse landauf, landab nun das Ende dieser Institution. Hierzu wurden Entwicklungen der Verfügbarkeit (von „Fasse dich kurz!“ bis „Ruf doch mal an!“), popkulturelle Referenzen (jemand hat einmal in einem Film in einer Telefonzelle telefoniert etc.), olfaktorischen Beschreibungen (Urin!) bis hin zur funktionierenden Kreislaufwirtschaft (man kann die Dinger jetzt für 500,– Euro auf Ebay ersteigern, um darin zu Hause seine Podcasts aufzunehmen) bemüht.

Was man gemeinhin zuletzt als Telefonzelle bezeichnete, waren nichts weiter als nichtbegehbare Telefonsäulen.

Dabei gibt es – Stand heute – bereits so gut wie gar keine Telefonzellen mehr, seitdem der Anbieter mit dem magentafarbenen Logo diese Mitte der 2010er Jahre überwiegend durch nichtbegehbare Telefonsäulen ersetzt hat. Nach längerem Suchen finde ich endlich noch eine Begehbare, ganz in der Nähe der Reeperbahn, sammle meine Münzen zusammen und kneife mir die Nase zu. Ich weiß gar nicht, wen ich anrufen soll, weil ich gar keine Telefonnummern mehr auswendig weiß.

Von den zwei möglichen Personen, deren Rufnummern mir im Gedächtnis befindlich, wähle ich die Nummer der Person, die am heutigen Tag Geburtstag hat. Und weil heute kein normaler Mensch mehr ein Gespräch von einer unbekannten Nummer annimmt, lande ich bei meinem finalen Münzferngespräch auf dem automatischen Sprachspeicher. Das ist ganz schön, denke ich, so könnte dieses Audiodokument bei ordnungsgemäßer Datensicherung ein Geschenk für die Ewigkeit werden. Oder auch nicht, aber das ist auch egal.

Saal II zu

Saal II ein paar Tage vor Toresschluss

Dann am 30. September 2022, nach gut 27 Jahren ist einfach Schluss. Von Anfang an hab ich diesen Ort gemocht. Freundinnen und Freunde kamen und gingen, der Saal II war immer da. Als ein paar Wochen zuvor die Daniela Bar schräg gegenüber dichtmachte, dachte ich noch, korrekter Ladern, aber nicht meiner, zum Glück gibt es den Saal noch, aber das war, wie so oft, zu früh gefreut.

Saal II am 30. September 2022

Seit bekannt wurde, dass die Türen schließen würden, war ich noch ein paar Mal da; meinen letzten Geburtstag habe ich mit einer Flasche Bier allein „gefeiert“. Das erschien mir angemessen. Die Frau hinter dem Tresen und der Mann davor waren noch nicht geboren als ich das erste Mal hier war. 1995, mit einem längst aus den Augen verlorenem Schulfreund.

Naturgemäß schwankte die Frequenz meiner Besuche, aber Anfang der 2000er habe ich hier viel Zeit verbracht mit Frühstück, Pfannkuchen, Zeitung, Freunden und Bier. In den letzten Zehn Jahren war ich allerdings kein besonders guter Gast. Flasche auf mein Haupt.

Der allerletzte Abend vor dem Saal II

Am letzten Abend sind noch einmal viele Leute da gewesen. Viele von früher, aber auch viele, die ich nie gesehen habe. Es ist ein bißchen wie auf einer Beerdigung ohne Butterkuchen und ich vermisse doch das eine oder andere Saal-II-Gesicht. Wo die heute alle sind, frage ich Olli, den Noch-Betreiber. Es weiß es auch nicht, „aber hey, nicht zurückblicken, schön ist doch, dass die Leute, die zuletzt immer da waren, heute hier sind“, so er. Das klingt versöhnlich, ich trinke zu viele Biere mit Menschen, die ich lange nicht gesehen und gehe spät, aber nicht zu spät. Mach’s gut, Saal II, und Danke …