Utz, Kapitel 4: Kaffeehauspsychose

Noch immer etwas niedergeschlagen von der Busfahrt, betrat Utz das kleine Kaffeehaus. Bis zum Beginn der Vorstandssitzung blieb ihm noch fast eine Stunde Zeit, und so bestellte er noch ein Kännchen Knollenblätterpilztee zu der von ihm so geliebten Kohlrabitorte. Eigentlich wollte er an diesem Ort nur noch ein wenig meditieren und ein unverständliches Mantra vor sich hinmurmeln, wie er es immer tat, wenn er in diesem Café saß und die Zeit bis zum Beginn der Vorstandssitzung des Vereins zur Pflege der Schirmmützenkultur Deutschlands e. V. überbrücken musste.

Am Tisch neben Utz saßen zwei übermäßig aufgetakelte Grundschullehrerinnen, deren Schüler ihm sofort leid taten. Jeden Tag mehrere Stunden im Dunstkreis einer brechreizauslösenden Parfümwolke zu verbringen, fördert sicher nicht das Lernverhalten von Erstklässlern, dachte Utz, während er genüsslich in seine Kohlrabitorte biss. Wie er dem unüberhörbaren Geschnatter seiner Tischnachbarinnen entnehmen konnte, sammelte ein vermutlich längst erstickter Lebensgefährte der einen Grundschullehrerin mit großem Eifer Yps-Hefte. Daraufhin die zweite: „Waren das nicht diese Comics mit diesen Extras?“ – „Ja, da gab es immer so merkwürdige Beilagen„, erwiderte daraufhin die erste, „Urzeitkrebse und so’n Zeug.“ Es folgte eine gleichermaßen detaillierte wie angewiderte Analyse der Sinnhaftigkeit der Comiczugaben, in deren Verlauf immerzu von „Beilagen“ und „Extras“ die Rede war. Utz war in seiner nicht immer glücklichen Kindheit selbst ein leidenschaftlicher Yps-Leser gewesen. Die Tage, an denen ein neues Heft erschien, waren stets seine glücklichsten. Außerdem verspürte er nicht zuletzt wegen des prägnanten Namens eine gewisse Sympathie für den gezeichneten Protagonisten der Urzeitkrebsfachzeitschrift. Angesichts des fortschreitenden Grundschullehrerinnendilettantismus, welcher sich nun nicht nur auf Urzeitkrebse, sondern schließlich auch noch auf Geld-Zauber-Maschinen, Blasrohrpistolen, Kompressionsraketen und Pupskissen sowie viele weitere „Beilagen“ und „Extras“ erstreckte, konnte Utz plötzlich nicht mehr innehalten. Unvermittelt sprang er auf und schrie, so laut er konnte, in die Parfümwolke: „Es heißt Gimmick, verdammt nochmal!“ und verließ umgehend und ohne zu bezahlen das Kaffeehaus.

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Utz, Kapitel 3: Schleudertraining


Foto: pulfi

Utz quälte sich sehr. Er fährt nicht gern mit dem Linienbus seit dem Vorfall, damals. Außerdem ist er nicht nur erster Beisitzer im Verein zur Pflege der Schirmmützenkultur Deutschlands e. V., sondern auch überzeugtes ADAC-Mitglied. Zu seinem vorletzten Geburtstag bekam Utz einen Schleuderkurs geschenkt. Seitdem konnte er vom Schleudern nicht mehr lassen. Überall musste er, nachdem er diesen Lehrgang mit Auszeichnung absolvierte, seine Kenntnisse in die Praxis umsetzen: auf engen Einbahnstraßen, einsamen Landstraßen und immer wieder auch auf stark frequentierten Autobahnen. Es war wie eine Sucht. Sobald Utz hinter dem Steuer eines Kraftfahrzeuges saß, musste er das Lenkrad herumreißen und gleichzeitig mit ganzer Kraft die Handbremse ziehen. Der Druck ließ erst von ihm ab, wenn sein Auto um 180 Grad gedreht war.

Der Zwang zum Schleudern beherrschte ihn im Laufe der Zeit immer mehr und irgendwann war das unvermittelte Umdrehen der Fahrtrichtung der einzige Kick in seinem tristen Leben, der ihm noch den Ansatz einer Befriedigung verschaffen konnte. Auch zahlreiche Psycho- und Verhaltenstherapien konnten ihm nicht den Weg in die richtige Richtung weisen. Nach dem letzten Therapeutenstammtisch, bei dem alle Psychotherapeuten der Stadt utzgeschädigt – schleudertraumatisiert und mit Halskrausen bekleidet – resigniert beisammensaßen, war klar, dass es niemanden gibt, der Utz von seinem Schicksal befreien konnte.

Seit der letzten von ihm verursachten Massenkarambolage steckt Utz in seiner bislang düstersten Melancholie. Nicht der vielen Verkehrsopfer wegen bläst er Trübsal, sondern einzig und allein, weil ihm das Schleudern fehlt. Nur stark benebelnde Psychopharmaka machen es ihm möglich, das abscheulichste aller Verkehrsmittel zu benutzen: den öffentlichen Linienbus.

Utz, Kapitel 2

Eine Geschlechtsumwandlung vornehmen zu lassen oder einen landwirtschaftlichen Betrieb zu erwerben, nur um einmal im Privatfernsehen in Erscheinung zu treten? Geistesgegenwärtig schloss Utz diese Optionen aus, während er, unter der Dusche stehend, mit ganzer Kraft die letzten Tropfen der Milch- und Honigseife aus dem Spender pumpte. Seine große Liebe ist nicht irgendeine dahergelaufende wasserstoffblondierte Nagelstudiobetreiberin, die bereits im Alter von 21 Jahren drei Kinder von vier Männern empfangen hat, und nun durch den ersehnten Umzug aufs Land ihrem Dasein beim allmorgendlichen Kühemelken und Hühnerfüttern einen neuen Sinn zu geben versucht. Verständnis hat Utz zwar dafür, dass diese Damen nicht tagein, tagaus Strasssteinchen auf Plastiknägel anbringen möchte, aber warum sollte ausgerechnet er einen Bauernhof erwerben, nur, um diesen Typ Frau aus ihren selbstgewählten Kunstnagelgestaltungsvorhöllen zu befreien? Auch ist Utz kein siebenundvierzigjähriger gutmütiger Genmaiszüchter, der noch mit seiner Mutter, die ihm morgens täglich eine Milchsuppe kocht und abends eine heiße Zitrone zubereitet, unter dem Dach eines heruntergekommenen Resthofes wohnt, und dessen einzige Erfahrung im Umgang mit weiblichen Lebewesen, die nicht mit ihm verwandt sind, auf den Kontakt mit den von ihm gezüchteten Suppenhühnern beschränkt ist.

Utz hat jetzt wichtigeres zu tun als über seine nichtzustandekommende Bewerbung für Bauer sucht Frau zu sinnieren, denn seine wirklich wahre große Liebe, der Verein zur Pflege der Schirmmützenkultur Deutschlands e. V. steckt gerade in der größten Krise seit seiner Gründung vor 37 Jahren, 11 Monaten und 3 Tagen. Und so geschah es, dass Utz sich auf die beschwerliche Busreise in das Vereinshaus machte, welches sich seit vielen Jahren im Keller des Lokals Zum Frühaufsteher (ehemals bekannt als Zur schmutzigen Gardine), das aber von den Vereinsbrüdern nur noch liebevoll Zur blutigen Rosa genannt wird – in Andenken an die vor drei Jahren von ihrem Lebensgefährten, einem jähzornigen ehemaligen Ex-Knacki, niedergestochene kettenrauchende und einbeinige Exwirtin.

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Lesen Sie auch in der nächsten Folge weiter, wenn es heißt: Warum muss der Protagonist ausgerechnet mit dem Omnibus in das Vereinslokal fahren und wieso steckt die Schirmmützenkultur in der Krise?

Utz, Kapitel 1

Utz ist erster Beisitzer im Verein zur Pflege der Schirmmützenkultur Deutschlands e. V. Wie jeden Morgen klingelt auch heute sein sein Radiowecker um exakt 7.23 Uhr und beendet seinen ohnehin nur sehr leichten Schlaf jäh. Die halbe Nacht hatte er davon geträumt, nicht mehr nur Beisitzer im Verein zur Pflege der Schirmmützenkultur Deutschlands e. V. zu sein, sondern ein ganz anderer, viel bedeutenderer Mensch. In seinen nächtlichen Visionen war er plötztlich nicht mehr einfach nur Utz, sondern Tierpfleger im zoologisch-botanischen Garten Wilhelma im Stuttgarter Stadtbezirk Bad Canstatt. Ähnlich wie der vor vielen Jahren für die Aufzucht eines knudeligen Eisbärbabys, an dessen Namen sich heute niemand mehr erinnern kann, zuständige Zooangestellte, gelangte auch Utz zu einer bescheidenen Bekanntheit, welche ihm hin und wieder einen Auftritt im lokalen Bürgerrundfunk bescherte. Als er unsanft erwuch, konnte er sich jedoch nicht einmal mehr an das liebliche Lächeln des von ihm in seinem Traum mit großer Zuneignung aufgezogenen Dönertiers erinnern.

Wie gewöhnlich an Dienstagen, trank er sofort nach dem Aufstehen zwei Gläser Sprite und frühstückte dazu zwei wohltuende Pullmoll aus der grünen Dose, denn die aus der roten Dose mochte er nicht mehr, seitdem er als Kind eine Überdosis nur knapp überlebte. An anderen Werktagen bevorzugt Utz zwei Minzdragées der Marke Tic Tac à zwei Kalorien zu einem Glas 7up. Der Vertrieb dieses Geränks wurde zwar bereits vor einigen Jahren mangels Nachfrage eingestellt, Utz hat sich allerdings von dem Erbe seiner Großtante dritten Grades einen großzügigen Restbestand gesichert. Wie sonst hätte er die Montage und Mittwoche bis Freitage überstehenen sollen, fragte sich Utz, während er insgeheim froh war über das rechtzeitige Ableben seiner Großtante dritten Grades. Seine überschaubare Halbweisenrente und die Aufwandsentschädigung für das Amt des Beisitzers im Verein zur Pflege der Schirmmützenkultur Deutschlands e. V. hätten nicht ausgereicht, um die 7up-Dosis bis an das Ende seiner Tage zu gewährleisten.

An Wochenende leistet sich Utz meist ein Brötchen. Wenn er mit seiner kleinen Brötchentüte vom SB-Bäcker seines Vertrauens in seine kalte, dunkle und an den Wänden leicht feuchte Behausung am Rande der Stadt zurückkehrt, fühlt er sich oft sehr einsam. Zu gern würde er sich dann bei Bauer sucht Frau bewerben, um auch einmal eine mit zwei Rundstücken prallvoll befüllte Brötchentüte nach Hause tragen zu können, aber Utz ist weder Bauer noch Frau.

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Anmerkung des Verfassers: Was soll das alles? Das weiß ich auch nicht – aber es war wieder an der Zeit, hier einen Beitrag zu veröffentlichen. Eine Fortsetzung folgt, falls mir wieder einmal nichts besseres einfallen sollte und/oder dies von den Lesern dieses Onlinejournals gewünscht ist.