Herbst ist okay

Und während wir hier gescheit daher reden, werden draußen
die Tage immer kürzer. Schon neigt sich das Jahr in den Herbst,
der bringt den güldenen Oktober, Lexicon of Love, Melancholie,
die Heiterkeit und einen Wohlgeruch.

(Rainald Goetz, Irre)

Herbst ist okay, sagen wir. Und dann denken wir an den Oktober gülden, mit seinen Blättern gelb und braun und Figürchen, gebastelt aus Kastanien, und heißen Tee und Abenden am Kamin und zweisamen Spaziergängen und all den Rilkescheiß, den der Dichter uns einst ach so erfolgreich in unsere Gehirne gepflanzt hat. Doch dann gehen wir vor die Tür und sehen das Grau allüberall und spüren den Regen, der ganz gemein so unablässig vor sich hinnieselt und vom Wind, der noch kein Sturm ist, in unsere Augen geweht wird. Dann wünschen wir uns einen letzten Sommertag, obschon es erst wenige Tage her ist, dass wir auch den Sommer verfluchten, weil die Menschen in den U-Bahnen immerzu nach Schweiß stanken.

Spärlich geschützt vor den unwirtlichen letzten Septembertagen sitzt auf dem Treppenabsatz unter einem kleinen Dachvorsprung des Museums für Kunst und Gewerbe, direkt neben dem Hauptbahnhof, ein junges Mädchen. Sie ist zu leicht bekleidet und zittert. Fahrig und routiniert zugleich schiebt sie sich den linken Ärmel hoch und führt die Nadel der Spritze in ihre Vene ein. Ich kann nicht hinsehen, wie sie sich selbst zugrunde richtet, und doch wäre ich gern stehengeblieben, um zu beobachten, ob sie, wenn sie nur all den Stoff in sich hineinpumpt, sodann, wie man es immer wieder gelesen hat, eine wohlige Wärme durchfährt, die naturgemäß auch nur von kurzer Dauer sein kann; wie alles, was uns glücklich macht, immer nur von kurzer Dauer sein kann. Protect us from what we want, und im Strom der Menschen ziehe ich vorbei. H-I-L-F-(E)!

Und dann immer wieder dieselbe, die Jahreszeit beherrschende Frage: Was man alles aus Kürbis machen kann? Da stehen sie nun diese Monster, hilflos in Euren Designerküchen, mitgeliefert in der wöchentlichen Gemüsekiste, obwohl der Kürbis rein botanisch gesehen, klar, eine Frucht ist. Für eine reine Halloweenausweidung zu schade, also wochenlang Kürbissuppe, Risotto, Salat, Auflauf, Marmelade, Muffins usw. in sich hineinschaufeln. Bis zum Abwinken immerzu Kürbis und irgendwann ist man froh, wenn das alles ein Ende hat und in der nächsten Saison geht dann wieder alles von vorne los.

Zuhause angekommen das Thermometer unter die Zunge legen und abwarten. Wie schon im vergangenen Jahr, eine leichte Untertemperatur feststellen und weil sie, die sonst eine Wärmflasche machte und Tee kochte, längst nicht mehr da ist, sich nach Fieber sehnen und nach etwas Goldenem, einem Oktober oder einen Schuss.

Herbst 2008

Wenn du und das Laub wird älter
und du merkst, die Luft wird kälter
und du fiehlst, daß du bald sterbst
dann is Herbst

(Dieter Hildebrandt)


„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, dichtete Rainer Maria Rilke im Jahre 1902. Und sinnierten wir bis vor kurzem bei diesen Zeilen noch über die Zeit des Überganges zwischen Sommer und Winter, gar die Zeit der Ernte, so weist uns das vor uns auf dem Tisch liegende, welkende Handelsblatt schonungslos auf die fortdauernde Immobilienkrise hin.

Über den Herbst habe ich bereits im vergangenen Jahr alles geschrieben, was zu schreiben ist. In diesem Jahr gibt es darum auch nur einige Bildimpressionen von mir. Falls ich im kommenden Jahr den Chlorophyllabbau in den Blättern noch miterleben sollte, komponiere ich vielleicht eine passende Kantate.