Kicker

Dort, wo sich sonst die zum Kauf angebotene Kommode befand, die einst Brigitte Bardot gehört haben soll, steht plötzlich ein Kickertisch. Hamburger Berg goes Winterhude. Aber natürlich steht im Keller des Cafés nicht irgendein Kicker, sondern ein besonderer: die Spielrichtung verläuft entgegen allen Gepflogenheiten von links nach rechts. Zunächst stiftet dies Verwirrung, ist aber bei nährer Betrachtung wohlüberlegt.

Das Kneipensportgerät ist elementarer Bestandteil der Weihnachtsfeierlichkeiten, zu denen Personal, Stammgäste und Möbel geladen sind. Der ungewohnte Seitentausch ist nicht etwa — wie man zunächst meinen könnte — das Ergebnis einer fehlerhaften Montage, sondern dient dem Training der Koordination von rechter und linker Gehirnhälfte. Dadurch soll kompensiert werden, dass der weihnachtsfeierbedingt in größeren Mengen ausgeschenkte Alkohol den Besuchern der Festivität übermäßig zu Kopfe steigt. Das funktioniert so gut, dass Personal, Stammgäste und Möbel bereits bedauren, dass es sich bei dem Tischfußballtisch lediglich um ein Leihgerät handelt. Obwohl sämtliche Flaschen erfolgreich geleert wurden, gibt es am Tag danach keinen Grund, einander wieder das „Sie“ anzubieten.

Pinguin

Am Südpol ist es mittlerweile so warm, dass es für George, den Pinguin, keinen Unterschied macht, ob er dort auf einer schmilzenden Eisscholle sitzt, oder sich in Hamburg befindet. Da können die Politiker in Kopenhagen noch so viel über den Klimaschutz diskutieren.

Der Pinguin aus Plüsch ist schon etwas ramponiert und sein Besitzer hat ihn einfach auf einer unwirtlichen Parkbank in der Nähe einer Bahntrasse ausgesetzt. Das ist schlimm für George, aber was hätte er dagegen tun sollen? Die Parkbank ist jetzt seine Eisscholle. Heimat kann überall sein.

Café

Frühstück im Café du passage

Ich sitze in meinem Café und blättere in der Speisekarte. Das Café ist natürlich nicht mein Café, sondern mein Lieblingscafé, in das ich täglich gehe — unter anderem, um die Zeitung zu lesen, die natürlich ebenso wenig die meine ist. Die Karte kenne ich zwar, aber ein mir unbekannter Gast nimmt meine bevorzugte Tageszeitung in Beschlag.

Viele Gäste sind mir mittlerweile bekannt; zum Beispiel Klaus, der meistens schwarze Lederhosen trägt, und am Tisch nebenan sitzt. Er kritzelt etwas in winzigen Buchstaben auf ein loses Blatt Papier. Es könnte seine Biographie sein oder auch sein Testament. Die Buchstaben sind so klein, dass ich bezweifle, dass er sein Geschriebenes je wieder wird entziffern können; zumindest nicht ohne Leselupe. Der Gast, der die Tageszeitung in Beschlag nimmt, ist mir nicht bekannt, nicht einmal vom Sehen. Deswegen traue ich mich nicht, ihn zu fragen, ob er mir einen Teil abgibt. Es ist Freitag, und vermutlich hätte er ohnehin nur den Münchener Immobilienteil herausgerückt, der für mich einen ähnlich hohen Unterhaltungs- und Informationswert hat wie ein Lokalteil aus Reykjavik. Klaus und ich teilen uns die Zeitung immer unaufgefordert. Im Laufe der Zeit hat sich ein fester Modus herauskristallisiert, wer zuerst welchen Part lesen darf — nach einer gewissen Zeit wird getauscht.

Um die Wartezeit auf Politik, Feuilleton und Wirtschaft zu überbrücken, addiere ich die Quersummen der Preise aller Speisen und Getränke, um im Anschluss aus der Summe die Quadratwurzel zu ziehen. Mathematik hat mir nie Freude bereitet, genauso wenig wie der Sportteil, den ich stets auslasse. Sport ist noch uninteressanter als Anzeigen für großzügige Villengrundstücke am Starnberger See. Aus den Lautsprechern schallt dezent Musik: Paul Weller, von dem ich mich jedes Mal wundere, wie er an diesen Ort kommt. Der Modfather zu Gast im beschaulichen Winterhude; eine merkwürdige Vorstellung.

Zum Glück ist heute noch kein Wochenende, denn dann kommen zu allem Unglück auch noch die Wochenendfrühstücker aus ihren Löchern. Weil sie immer früher aufstehen als ich, essen sie mir meist die letzten Brötchen weg. Das Wichtigste ist, zum kleinen Frühstück ein zusätzliches Vollkornbrötchen zu bestellen. Dann startet es sich angenehmer in den Tag.

Soundtrack meines Lebens: My Funny Valentine

In der CD-Abteilung einer großen Elektromarktkette; die bestsortierte Jazzabteilung der Stadt: Eine noch recht jugendlich wirkende Mutter hält das Cover des 1959 erschienenen Albums „Chet“ in der Hand. „Einmal diese Lippen küssen“, sagt sie halb träumend zu ihrer schon recht erwachsen wirkenden Tochter. Ich habe ein späteres Bild des großen Trompeters vor Augen: das eines vom Leben gezeichneten alten Mannes; keine Zähne im Mund und tiefe Falten im Gesicht, seine Bewegungen sind langsam und er ist vom Heroin gezeichnet. Ich lasse allerdings Mutter und Tochter in ihren Illusionen, denn wer küsst schon gern einen zahnlosen Junkie?

1959 allerdings sah Chet Baker tatsächlich noch aus wie ein James Dean mit Trompete. Niemand anders hat dieses Instrument so gefühlvoll gespielt, so lässig. Er war wahrlich kein Sänger und dennoch hat seine Art zu singen den Jazz geprägt. Er war kein großer Komponist, aber ein beeindruckender Interpret. Und sicher hat seinem Aufstieg nicht geschadet, dass er so fotogen war wie kein ein anderer Jazzmusiker.

Ein paar Jahre später schon begann Chet Bakers rasanter Fall: bei einer Schlägerei verlor er seine Zähne, der Drogenkonsum hinterließ seine Spuren. Dennoch war er musikalisch bis kurz vor seinem Tod zu musikalischen Glanzleistungen fähig — auch wenn er manchmal etwas fahrig wirkte, Einsätze verpasste oder Texte vergaß. In seinen letzten Jahren entstanden beeindruckende Aufnahmen wie „Live in Tokyo“ (1987), aus der obigen Version von „My Funny Valentine“ stammt; aber auch die Zusammenarbeit mit dem belglischen Gitarristen Philip Catherine oder die nur zwei Wochen vor seinem Tod enstandenen Konzertmitschnitte gemeinsam mit der NDR-Bigband verdienen Erwähnung. Am 13. Mai 1988 fiel er unter ungeklärten Umständen aus einem Amsterdamer Hotelfenster und war sofort tot. Bruce Webers wunderbare Filmbiografie „Let’s Get Lost“ (1988) zeigt einfühlsam alle Höhen und Tiefen aus Chet Bakers bewegtem Leben. Ein tragischer Held — für immer unvergessen.

Chet Baker höre in glücklichen Momenten; Chet Baker höre ich in traurigen Momenten. Chet Baker kann man in jeder Lebenslage hören. Sogar eine Weihnachtsplatte gibt es von ihm, die einen vergessen lässt, dass „Last Christmas“ je komponiert wurde.

Dies ist ein Beitrag aus meiner Serie “Der Soundtrack meines Lebens”. Weitere Beiträge dazu finden sich hier.