An einem Samstagabend waten wir durch dieses Friedrichshain, in dem die Kneipen entweder übervoll oder nur halb gut sind. Schließlich landen wir in einer russischen Bar, in der ein DJ im gestreiften Hemd und karierter Krawatte Musik aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Vinyl auflegt. Wie damals in Hamburg finde ich es auch hier befremdlich, wenn Menschen in einem fortgeschrittenen Alter ihrem äußeren Anschein nach etwas zu verkrampft einer längst vergangenen Jugendkultur hinterher zu hängen pflegen. Trotzdem macht er seine Sache gut, weil er mit Leidenschaft dabei ist, und ich erfreue mich daran, dass er zahlreiche Liedversionen in deutscher und französischer Sprache auflegt. Dazu werden – genau wie wir es wünschen – White Russians mit Milch gereicht.
Am Nebentisch sitzen drei junge Frauen und zwei Männer. Die Frauen sind hübsch anzuschauen, die Herren eher weniger. Der erste Herr trägt sehr gegeeltes halblanges Haar und Manschettenknöpfe, der zweite Herr ein Käppi und an jedem Finger einen Silberring. Damen und Herren scheinen einander nicht sonderlich gut zu kennen. Während die Herren offenbar größeres Interesse an einer näheren Bekanntschaft mit den Damen haben, haben diese wiederum ein noch größeres Interesse an den von den Herren bereitgestellten alkoholhaltigen Freigetränken.
Gespannt beobachten meine Begleiterin und ich das Balzgeschehen aus der Ferne. „Wenn jetzt nur einer von ihnen einen Tortenheber dabei hätte“, sage ich. „Das könnte die Situation retten.“ Leicht verwundert schaut mich meine Begleitung an, aber sodann beginnt das Schauspiel am Nebentisch: Noch ehe ich die Gelegenheit habe, das Gesagte zu erörtern, zieht der Gegeelte einen silbernen Tortenheber aus seiner Gesäßtasche, um diesen einige Minuten gleich einer Monstranz vor sich zu halten und die Damen damit der Reihe nach zu segnen. Ganz leicht berührt er mit dem Tortenheber die Stirn einer jeden Dame an seinem Tisch. Danach passiert zunächst einmal nichts. „Jetzt gilt es, abzuwarten“, sage ich zu meiner Begleitung und nicke ihr wissend zu.
Und siehe da: Wie es im offiziellen Lehrbuch für Tortenhebertricks steht, beginnen Damen und Herren am Nebentisch, die vor der Anwendung des Kuchenhebegeräts einander nicht sonderlich zugeneigt waren, sich zu küssen, als sei selbstverständlicher nichts auf der Welt. Die dank Tortenheberkraft zusammengefundenen Pärchen wirken mit dieser Situation zufrieden; lediglich die Dritte Dame, die niemanden fand, der sich bereit erklärte, seine Zunge in ihren Mund zu schieben, scheint etwas unleidig zu werden.
Später am Abend verlassen wir die Bar. Weniger, weil uns das Treiben am Nachbartisch zu viel wird, sondern weil alle Getränke getrunken sind. Ganz unerwartet springt der DJ hinter seinem Pult hervor, um mir etwas zu überschwänglich zum Abschied die Hand zu schütteln und sich für meine Geduld zu bedanken. Ich bin gerührt, danke wiederum dem Plattenaufleger für die Musik und denke, dass ich mich eigentlich zuerst hätte bei ihm bedanken müssen.
Zufällig treffe ich am Tag darauf meine Begleitung vom Vorabend wieder, wir schlendern gemeinsam über den Flohmarkt am Boxhagener Platz, um einen Tortenheber zu erwerben. Kurzerhand entscheiden wir uns jedoch, stattdessen ein Café aufzusuchen, um ein Stück Torte zu essen. Diese ganze Knutscherei in irgendwelchen Bars ist ohnehin überbewertet.
Eine Antwort auf „Die Geschichte mit dem Tortenheber“
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