Ausgesetzt

Was könnte man in Zeiten wie diesen dringender gebrauchen als etwas Wärmendes? Doch völlig unbeachtet liegt sie da, am Wegesrand: die herbstfarbene Wärmflasche. Ein Zuverschenkenfunktionierteinwandfreischild wäre eine schöne Geste gewesen. Das Schild fehlt jedoch. Vermutlich hat der Wäremespender einen Riss. Keinen poetischen, wie bei Leonard Cohen, der das Licht reinlässt – schließlich ist Licht in der Wärmflasche so wünschenswert wie ein Loch im Kopf. Sie ist einfach nur Unrat. Und wenn alles gut geht, ist sie in nur 450 Jahren komplett verrottet.

Willy Brandt steuert den Schlitten

Marlis Vater war Willy Brandt und er steuerte den Schlitten. Natürlich, wie es sich für Willy Brandt gehört, nicht irgendeinen, sondern einen ganz besonderen. Der Schlitten bestand aus einem Ohrensessel, unter dem als Kufen Skier montiert waren. Dieser wurde von einem Pferd gezogen. Kein elegantes Dressurpferd, sondern wie es sich für einen Arbeiterführer gehört, ein eher rustikales Brauereipferd. Hinter dem Schlittensessel, und das war das besonders Tolle, wurden die Rodelschlitten der Kinder aus der Nachbarschaft mit dicken Seilen angebunden. Pferd, Ohrensessel mit Skiern, Rodelschlitten, Rodelschlitten, Rodelschlitten etc. So eine Fahrt war ein großer Spaß, damals, als Schnee im Winter noch etwas ganz Normales war.

Kurze Zeit später entdeckte ich zufällig Marlis Vater im Fernsehen. Es muss zu einer Zeit gewesen sein, als ihr Vater noch ein sehr aktiver Politiker gewesen war. Ich wunderte mich zwar, dass der Ohrensesselschlittenmann an prominenter Stelle über Dinge sprach, die ich nicht verstand, dachte aber fast 40 Jahre nicht mehr über diese Merkwürdigkeit nach.

Mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit war Willy Brandt nicht der Vater von Marlis aus der Nachbarschaft. Aber er sah genau so aus. Und er hätte es sein können.

Der Consigliere ist weg

Normalerweise saß er am offenen Fenster und rauchte. Fast immer standen unterhalb des geöffneten Fensters Frauen und Männer aus der Nachbarschaft und baten ihn um seinen Rat. Oft hatten sie komplizierte Formulare oder schwer verständliche offizielle Briefe dabei, die sie ihm hochreichten. Er betrachtete die Schriftstücke mit gebotenem Ernst, zog dann nachdenklich an seiner Zigarette und erklärte in verständlicher Sprache, was zu tun sei. Wie man das eben so macht, als Consigliere.

Wenn sein Rat einmal gerade nicht gefragt war, saß er vor seinem übergroßen Computermonitor. Sein Monitor war so überdimensioniert, dass man von draußen erkennen konnte, was der Consigliere gerade macht. Meistens war Facebook geöffnet. Ich stellte mir dann vor, dass der Consigliere auch auf dieser Plattform voller Hass und Verschwörungmythen, die Sachen gerade rückte. Stets kompetent und konstruktiv. Auf den Consigliere ist Verlass.

Manchmal, wenn niemand unten am Fenster stand und um Rat frug und er auch auf Facebook alle Unklarheiten beseitigt hatte, sah er sich auf seinem sehr großen Monitor Pornovideos an. Auch ein Consigliere braucht mal etwas Freizeit.

Doch jetzt ist er nicht mehr da. Die Wohnung ist leer. Der Monitor ist verschwunden. Wer jetzt wohl die Nachbarn durch die Kalamitäten der Bürokratie navigiert? Ich weiß es nicht. Hoffentlich schläft der Consigliere nicht bei den Fischen.

Unsolidarische Raumnahme

Wäscheleine

Frau Bieber war, was man damals eine „alte Jungfer“ nannte. Gemeinsam mit ihrer ebenfalls schon sehr alten Schwester bewohnte sie eine Erdgeschosswohnung im Nebenhaus. Obwohl zu Beginn der 1980er Jahre alle Menschen bereits einen Farbfernseher besaßen, waren sie die letzten, die noch der alten Freizeitbeschäftigung des Aus-dem-Fenster-Schauens frönten.

Damals neigten die Menschen dazu, ihre gewaschene Kleidung zwecks Trocknung im Freien, drapiert auf langen Leinen, der Sonne und frischer Luft auszusetzen. Doch auch die längste Leine hatte ein Ende. Und so wurde der Zentimeter zu einem raren und bisweilen umkämpften Gut. Insbesondere, da sich Haushalte aus zwei Mietshäusern den Platz teilen mussten.

Frau Bieber neigte jedoch nicht nur zum Fensterausguck, sondern auch dazu, mit unlauteren Mitteln ihren Leinenplatz zu erweitern, indem sie die noch recht klammen Textilien ihrer Nachbarn eigenmächtig abhängte. P. duldete dieses Verhalten gemeinhin nicht. Als er Frau Bieber wieder einmal beim Abhängen fremder Wäsche erwischte, trug er die Alte einfach vom Wäscheplatz zurück in ihre Wohnung. So machte man das damals. Heute gibt es elektrische Wäschetrockner.