Warenwelten #10: Zugaben

Viele Jahre war die größte Attraktion des Kleinstadt-Supermarktes eine Tafel, auf der Fotos aller Mitarbeiter gezeigt wurden. Genauer gesagt, war die Attraktion der „Abteilungsleiter Hartwaren“, an dem mich stets nicht nur der famose Titel erfreute, sondern auch die Tatsache, dass er der einzige Mann seiner Generation war, der außerhalb von Berlin-Mitte einen Schnauzbart trug – und er tat dies freilich ganz ohne Ironie.

Neuerdings stößt man beim Betreten der Geschäftsräume auf einen Störer der ganz anderen Art. Ein kluger Kopf der Abteilung Verkaufsförderung entsann sich des gefallenen Zugabe- und Rabattgesetzes und versucht, fortan zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Künftig wird dem Appell der Verbraucherschutzministerin Folge geleistet, weniger Lebensmittel der Entsorgung zuzuführen, und gleichzeitig wird der Absatz minderwertiger Backwaren in unermessliche Höhen getrieben. Und so kam, was kommen musste – wer statt des einen benötigten Brotes gleich ein zweites, naturgemäß nicht benötigtes Brot, erwirbt, wird mit fertiggebackenen Teigrohlingen quasi zugeschissen. Gratis versteht sich.

Man denkt sich „Oh, ein Schnäppchen“, nimmt reflexhaft gleich zwei Brote mit, erfreut sich an Umsonstrundstücken, und merkt gar nicht, dass der Supermarkt die Entsorgung der Überkapazitäten einfach nur an den Verbraucher outgesourced hat. Und dann steht man zu Hause da, mit den bereits nach einigen Stunden vollkommen vertrockneten Laiben und überlegt, ob man morgen den Tag damit verbringen will, Paniermehl zu reiben oder im Park die Enten zu füttern. Hat man beide Möglichkeiten verworfen, nutzt man das zu viel erworbene Brot und die Brötchen als Füllmaterial für die Biotonne.

Der Abteilungsleiter Verkaufsförderung klopf sich derweil selbst auf die Schulter und entscheidet, künftig alle Warengruppen als sinnvolle „Bundles“ anzubieten: Wer zwei Flaschen Wodka kauft, bekommt drei Beutel Hagebuttentee, und wer zwei Kilo Mett kauft, bekommt drei Tofu-Frikadellen kostenlos dazu. Alle sind von nun an noch glücklichere Konsumenten. Nur ich bin etwas traurig, weil ich ich beim Herausgehen entdecke, dass der Abteilungsleiter Hartwaren seinen schönen Schnauzer abgelegt hat. – Der war eigentlich das Beste an diesem Supermarkt.

___
Weitere Beiträge aus der Rubrik “Warenwelten”.

Thomas Bernhard: Ein Frühling

Wie sich alles von einem zurückzieht, wie Qual wieder Qual wird, wieder Finsternis, wieder tödlich wird, wie Mauern wie Menschen zerfallen, wie du in deine zahnlose Zeit hineinschaust, zeigt dieser Frühling; du kannst aufwachen, wann du willst, du kannst gehen, wohin du willst, dieser Frühling mit seinen verheerenden Stürmen wischt dich weg, schaufelt dich auf die Straßenseite … faucht dich in die entlegensten Winkel, aus der einen in die andere Peripherie, aus der philosophischen in die hündische, aus der hündischen in die lächerliche, erbärmliche … wieder einmal strafen sich alle Bettgeher Lügen, ziehen sie ihre Vorhänge zu, ihre Übelkeiten … aus der Melancholie der angewärmten Geschlechter wird wieder die alles beherrschende Unzucht des Todes; wieder erbrechen sie vor dem besudelten, vom Schnee alleingelassenen Leichnam, erschrokken in millionenfältigem Staunen … Ganze Landstriche zeigen plötzlich ihre Geschwüre, überquellende Flußläufe verkünden das Ende der Schonzeit, es wird wieder in den Akten geblättert, alles wird wieder angeherrscht, von den Gerichtspräsidenten abgeurteilt; der Müdigkeit wird der Kopf abgeschnitten; überall wieder diese stupide kindermachende Vertraulichkeit auf den oberen und den unteren Rängen; die Welt steht wieder geschlossen auf seiten ihrer Prinzipien in diesem grenzenlosen niederträchtigen Exhibitionismus … In den Strömen der Theorien siehst du, wie sich die Ordnungen unterordnen, wie das Geröll der Jahre dir die Augen verfinstert, wie die Ideen zerreißen, die Wörter zerbröckeln. Hier auf den großen Friedhöfen aller Straßenzeilen studierst du die großen Rezensionen des Himmels, mit jeder Redewendung deckst du eine Legion von Verbrechen auf, eine Legion von Gewohnheitsverbrechen … in diesen ungeheuren Wartesälen genügt ein einziges Wort, um ruiniert zu sein, nur der Anfall von einem Gedanken, nur der Versuch, sich für einen Augenblick zu entziehen … von diesem Urteil ist alles erschöpft, in die Niederungen gemeiner Wehlaute zahllos hinuntergeflüchtet, in die bohrende Ungewißheit der Träume … Du bist verhöhnt von der Unverständlichkeit des Verstandes, von der Diktatur des schöpferischen Erniedrigers … du blätterst in ihren sinnlosen Büchern, du forscht nicht mehr nach … du machst dich nicht mehr verständlich; du traust ihnen niemals und nicht in ihrem heillosen Untergang, in ihrer gemeingefährlichen Geisteslepra … Allein, in der Unverstandslosigkeit deiner Gedanken, bestehst du nur noch aus Hunger und Durst in der ewigen Unverständlichkeit der Gestirne … in diesem Frühling ist alles und jedes wieder zu Ende, wie morgen und übermorgen, auf Mißverständnissen aufgebaut, auf Millionen unfruchtbarer Konstellationen, auf der Bedürfnislosigkeit der Natur, die, ein gewaltiger Unruhestillstand, von der Zusammensetzung der Luft, von der Festigkeit und von der Rücksichtslosigkeit der Metalle, gegen alle Gedächtnisse, eine ungeheure Verschweigung ist … dieser Frühling, in welchem die Natur sich wieder die menschliche Existenz zu erfinden getraut, ist ein für alles tödlicher ohrenbetäubender Geruch der Jahrtausende.

(Thomas Bernhard)

___
Text in: Spektrum des Geistes 1964. Literaturkalender. Ebenhausen bei München: Hartfried Voss o.J. [1963]. S.36. In: Jens Dittmar (Hrsg.) (2002): Thomas Bernhard. Werkgeschichte, 02. aktualisierte Auflage, Suhrkamp Taschenbuch Materialien, S. 59 f.; via thomas-bernhard-blog.de