Thomas Bernhard: Ein Frühling

Wie sich alles von einem zurückzieht, wie Qual wieder Qual wird, wieder Finsternis, wieder tödlich wird, wie Mauern wie Menschen zerfallen, wie du in deine zahnlose Zeit hineinschaust, zeigt dieser Frühling; du kannst aufwachen, wann du willst, du kannst gehen, wohin du willst, dieser Frühling mit seinen verheerenden Stürmen wischt dich weg, schaufelt dich auf die Straßenseite … faucht dich in die entlegensten Winkel, aus der einen in die andere Peripherie, aus der philosophischen in die hündische, aus der hündischen in die lächerliche, erbärmliche … wieder einmal strafen sich alle Bettgeher Lügen, ziehen sie ihre Vorhänge zu, ihre Übelkeiten … aus der Melancholie der angewärmten Geschlechter wird wieder die alles beherrschende Unzucht des Todes; wieder erbrechen sie vor dem besudelten, vom Schnee alleingelassenen Leichnam, erschrokken in millionenfältigem Staunen … Ganze Landstriche zeigen plötzlich ihre Geschwüre, überquellende Flußläufe verkünden das Ende der Schonzeit, es wird wieder in den Akten geblättert, alles wird wieder angeherrscht, von den Gerichtspräsidenten abgeurteilt; der Müdigkeit wird der Kopf abgeschnitten; überall wieder diese stupide kindermachende Vertraulichkeit auf den oberen und den unteren Rängen; die Welt steht wieder geschlossen auf seiten ihrer Prinzipien in diesem grenzenlosen niederträchtigen Exhibitionismus … In den Strömen der Theorien siehst du, wie sich die Ordnungen unterordnen, wie das Geröll der Jahre dir die Augen verfinstert, wie die Ideen zerreißen, die Wörter zerbröckeln. Hier auf den großen Friedhöfen aller Straßenzeilen studierst du die großen Rezensionen des Himmels, mit jeder Redewendung deckst du eine Legion von Verbrechen auf, eine Legion von Gewohnheitsverbrechen … in diesen ungeheuren Wartesälen genügt ein einziges Wort, um ruiniert zu sein, nur der Anfall von einem Gedanken, nur der Versuch, sich für einen Augenblick zu entziehen … von diesem Urteil ist alles erschöpft, in die Niederungen gemeiner Wehlaute zahllos hinuntergeflüchtet, in die bohrende Ungewißheit der Träume … Du bist verhöhnt von der Unverständlichkeit des Verstandes, von der Diktatur des schöpferischen Erniedrigers … du blätterst in ihren sinnlosen Büchern, du forscht nicht mehr nach … du machst dich nicht mehr verständlich; du traust ihnen niemals und nicht in ihrem heillosen Untergang, in ihrer gemeingefährlichen Geisteslepra … Allein, in der Unverstandslosigkeit deiner Gedanken, bestehst du nur noch aus Hunger und Durst in der ewigen Unverständlichkeit der Gestirne … in diesem Frühling ist alles und jedes wieder zu Ende, wie morgen und übermorgen, auf Mißverständnissen aufgebaut, auf Millionen unfruchtbarer Konstellationen, auf der Bedürfnislosigkeit der Natur, die, ein gewaltiger Unruhestillstand, von der Zusammensetzung der Luft, von der Festigkeit und von der Rücksichtslosigkeit der Metalle, gegen alle Gedächtnisse, eine ungeheure Verschweigung ist … dieser Frühling, in welchem die Natur sich wieder die menschliche Existenz zu erfinden getraut, ist ein für alles tödlicher ohrenbetäubender Geruch der Jahrtausende.

(Thomas Bernhard)

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Text in: Spektrum des Geistes 1964. Literaturkalender. Ebenhausen bei München: Hartfried Voss o.J. [1963]. S.36. In: Jens Dittmar (Hrsg.) (2002): Thomas Bernhard. Werkgeschichte, 02. aktualisierte Auflage, Suhrkamp Taschenbuch Materialien, S. 59 f.; via thomas-bernhard-blog.de

Das Kalkwerk

Es wäre natürlich nichts leichter, soll Konrad gesagt haben,
als einfach wirklich wahnsinnig zu werden, aber die Studie
ist mir wichtiger als der Wahnsinn.

(Thomas Bernhard, Das Kalkwerk)

Die ersten Sonnenstrahlen, trotz Kälte. Ich gehe spazieren. Kochs Kuhle, früher wurde hier Kalkstein gefördert. Als ich Kind war, dienten die Baggerseen zum Baden. Gelegentlich ist jemand ertrunken. Als ich Jugendlicher war, diente das Gelände als Ort zum Genuss von Bier. Meistens war jemand betrunken.

Eigentlich ist es ganz schön hier, denke ich und mache beiläufig Fotos. Ich genieße die Stille und denke an Thomas Bernhards Das Kalkwerk. In dem Roman arbeitet der in einem abgeschiedenen Kalkwerk lebende Protagonist, Konrad, an einer Studie über das Gehör. Irgendwann glaubt er, alles im Kopf zu haben und es einfach nur noch herunterschreiben zu müssen. Jedoch halten ihn stets widrige Umstände davon ab. Will Konrad zur Niederschrift ansetzen, klopft es an die Tür etc.

Ich versuche den Gedanken an Bernhards Kalkwerk abzuschütteln, weil es naturgemäß kein gutes Ende nahm, und konzentriere mich darauf, tief ein- und auszuatmen. Durch die Nase, genau so wie sie, die immerzu Yoga machte, wenn sie nicht gerade Thomas Bernhard las, es mir einst riet. Zuhause angekommen hoffe ich, dass das Klopfen an meiner Tür verstummt, um mich endlich den Dingen zuzuwenden, die mich schon lange beschäftigen.

Rettung

Um uns aus einer Notsituation zu erretten, denke ich, sind wir selbst genauso verlogen wie die, denen wir diese Verlogenheit andauernd vorwerfen und derentwegen wir alle diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten, das ist die Wahrheit; wir sind überhaupt um nichts besser, als diese Leute, die wir andauernd nur als unerträgliche und widerliche Leute empfinden, als abstoßende Menschen, mit welchen wir möglichst wenig zu tun haben wollen, während wir doch, wenn wir ehrlich sind, andauernd mit ihnen zu tun haben und genauso sind wie sie.

Thomas Bernhard, Holzfällen

Symphonie fantastique

Jetzt geht wieder alles von vorne los. Mehl, Hefe, Wasser etc. Ja ja, werden Sie sich jetzt denken, nun kommt er schon wieder mit der Mär vom Brötchenbacken ums Eck. Aber haben Sie sich je bei Berlioz oder Bernhard gelangweilt? Ohne mich mit ihnen vergleichen zu wollen, aber auch in ihren Werken spielten wiederkehrende Motive eine bedeutende Rolle.

Hier und da und dort habe ich es bereits versucht. Das erste Mal war kläglich, wie fast alles beim ersten Mal. Dann wurde es ein wenig besser. Schließlich gelangen sogar ganz ansehnliche Backwaren. Aber ihr äußeres Erscheinen war einiges besser als die inneren Werte. Sie waren trocken und hart. Warum sollte bei Backwaren auch besser sein als bei Mitmenschen?

Ich habe soeben einen weiteren Anlauf unternommen: Ei und etwas Olivenöl sollten es nun richten. Und eine Tasse Wasser, die ich zum Verdampfen in den Ofen stelle. Den Hefeteig ein zweites Mal kurz gehen lassen und dann langsamer und bei niedriger Temperatur backen. Es läuft.

Aber ehrlich gesagt: Eigentlich will ich nicht mehr backen. Es macht mir keinen Spaß. Womöglich es ist ein Zwang, gar eine Zwangsstörung, die selbst die Wikipedia (noch) nicht kennt. Es ist ein Backzwang. Ach. (Übrigens: Mittlerweile schmecken die Brötchen ganz okay.)