Ingeborg sitzt auf ihrer Wolke und raucht eine Zigarette. Gestern hat sie den halben Tag geschlafen und den Rest des Tages mit Paul Whatsapp-Nachrichten geschrieben. Heute aber schaut sie im österreichischen Staatsfernsehen, wie in Berlin und nicht in Berlin lebende Schriftsteller um den nach ihr benannten Preis wettlesen. Nebenbei verfolgt sie die Tweets des den Publikumspreis stiftenden Kreditinstituts.
Manntexte, Rehtexte, Kirschkerntexte, Kirschkerntexte. Immer wieder Kirschkerntexte. Zwischen den Manifesten ausufernde Jury-Diskussionen über Interpunktion und filmische Autorenporträts mit japanischen Mönchsflöten im österreichischen Alpenidyll. Mehr Semikola wagen! Im nächsten Jahr, im nächsten Jahr. Vorfreude auf das jüngste Gericht. Ingeborg hofft, dass sich mal wieder wer gescheit die Stirn mit einer Rasierklinge aufritzt, doch nichts dergleichen geschieht. Aber vielleicht bekennt sich Ronja von Rönne heute Nachmittag zum Feminismus, zum Feminismus.
„Der Text ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil der Problems.“ Warum nicht einfach die Autorenbeiträge kürzer fassen und mehr Raum für die Juroren schaffen? Das wäre auch gut für die Einschaltquoten, denkt Ingeborg, während sie ein letztes Mal tief an ihrer Zigarette zieht und dabei ganz sanft einschläft.
Nun ist der auch schon 60. Ganz schön alt für eine, genauer gesagt, die Nachwuchshoffnung des Literaturbetriebes. Wir indes warten immer noch auf seinen ganz großen Wurf und schauen uns derweil das den kompletten Nimbus begründende Rasierklingenvideo in Endlosschleife an.
„Ah, Rainald Goetz lesen Sie. Sehr interessant. Ja, hat denn der mal wieder etwas Neues geschrieben?“, riefen mir unzählige, ebenfalls bereits schon in die Jahre gekommene Damen und Herren, entgegen, als ich unlängst in Cafés der Lektüre eines gut abgehangenen Schinkens frönte. Irre, das.
Viele Raves später, während andere den Zustand der Gegenwartsliteratur beklagten, verbrachte der Schrifsteller seine Zeit damit, Tag für Tag auf den Zuschauerbänken verschiedener Gerichtssäle zu sitzen, um aus geringer Distanz die Niedertracht des Kampfes um die Macht in seinem Hausverlag auf das Genaueste zu dokumentieren. Stoff genug für einen den Johann Holtrop in den Schatten stellenden Abriss von überhaupt allem. Don’t cry – work. Und wenn schon keiner mehr damit rechnet, wird irgendwann, fernab von Büchermessen das udolindenbergmäßige Auferstandenausruinenbuch kommen und alle, die jetzt an seinen literarischen Fähigkeiten zweifeln, werden es naturgemäß schon immer gewusst haben wollen. Hoffnung.
Rasierklingen zu Bleistiften. Herzlichen Glückwunsch zum 60., Rainald Goetz.
Ich würde das Buch gern mögen, untitled von Joachim Bessing, weil ich Pop, auch als Literatur, eigentlich ja mag. Rainald Goetz hat es in seiner unnachahmlichen Art in der Zeit gelobt, so sehr, dass ich Bessing, von dem ich noch nie auch nur eine einzige gute Zeile gelesen habe, eine Chance gebe.
„Joachim Bessing hat mit untitled eine glühende Streitschrift für die Nervosität geschrieben, nicht nur für die Liebe, das auch, ein hysterisches Pamphlet für den Ernst, so durchgeknallt und eigenartig, dass ich täglich nachgucke auf Google News: wo bleiben die Hymnen, die großen Rezensionen?“, so Goetz, der naturgemäß auf Seite 233 auch zitiert wird („Oder wie Rainald Goetz, der einst in Rave geschrieben hat: Es wird ja viel zu wenig gekifft, auf Erden.“). Aber woher sollen die guten Rezensionen auch kommen, möchte man Goetz entgegenrufen!
Popliteratur ist tot
„I leaned in und sagte: Ich will jetzt sofort mit dir aufs Klo und dort weiterknutschen. Und sie sagte: Küssenderweise? Das will ich auch. Nie zuvor habe ich etwas derart Schönes, rein Gutes und meine Erwartung von Sexualität auf derart überwältigende Weise Erfüllendes erlebt wie das Tauschen von Küssen mit ihr.“
Und so geht das immer weiter, über dreihundert Seiten in Bleisatz gegossene naive Malerei. Man weiß bereits nach den ersten zwanzig Seiten nicht mehr, wie man diesen Unfug überhaupt aushalten soll. Es bestätigt sich das äußerst ungute Gefühl, dass die Popliteratur am 23. April 1975 überfahren wurde, und das nur, weil Rolf Dieter Brinkmann zu dusselig war, beim Überqueren der Straße auf den Londoner Linksverkehr zu achten.
Wenig Handlung
Es muss ja gar nicht viel passieren in einem Buch. Warum sollte eine unerfüllte Liebe, die leicht ein ganzes Menschenleben auszufüllen mag, nicht auch Stoff genug für einen Roman bieten? Man werfe Hermès, einen iPod, Martin Margiela, Nachtclubs, Werbeagenturen und Ketamin, ein paar Englische Versatzstücke sowie einige Liedzitate, ja, auch Tocotronic, in einen Topf und rührt etwas darin herum. – Fertig ist die Pop-Literatur. „Eine Art drohender Donnerkeil der Ausweglosigkeit schwebt über allem wie der überdimensionale Schatten eines Monsters in Horrorfilmen“ usw., versucht Helene Hegeman das redundant vor sich hinstotternde Geschreibsel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schönzureden. Liebesbotschaften über Liebesbotschaften sendet der Protagonist in Form von Einsen und Nullen. Und trotzdem kommt er seiner Angebeteten nicht nahe, das aber eingehüllt in allerlei Modejournalistenquatsch. London, Sidney, Paris, Berlin und immer hin und her.
Keine Form
Es muss ja gar nicht jeder Satz in einem so raffiniert durchkomponiert sein wie eine vierstimmige Bach’sche Fuge. Aber seit wann gibt es denn im Hause Kiepenheuer & Witsch kein Lektorat mehr, das sagt, wenn etwas hakt? (Oder wird da viel zu viel gekifft, in Verlagen?)
„Das iPhone vibriert in meiner rechten Hosentasche, während ich mich zwischen Pferdetransporten und Freunden des Springreitens hindurch auf den Presseeingang des Grand Palais zubewege. Der Schirm ist mir bei der Bedienung des Apparates hinderlich, ich plaziere ihn auf einem Papierkorb und gehe einfach weiter. Erin ist dran und sie zitiert scheinbar zusammenhangslos aus einem Band expressionistischer Lyrik, doch es stellt sich heraus, dass sie lediglich vorliest, was ich ich in der vergangenen Nacht per SMS zukommen ließ“, so Bessing. So etwas kann doch niemand lesen wollen.
Aber viel Kommunikation
Überhaupt spielt die Kommunikation mit dem iPhone in diesem Buch eine sehr große Rolle. Wenn es nicht so schlecht wäre, könnte man es für Apple-Schleichwerbung halten. „Die beiden ballern sich aus absurdesten Entfernungen mit SMS, Youtube-Videos, Musik und E-Mails zu. Und das wird nicht niedergeschrieben als medientheoretisch angehauchte Beispielabhandlung dessen, was moderne Kommunikation mit uns macht. Sondern als die gleiche Intensität, mit der Romeo einst vor Julias Balkon stand“, haucht Hegemann weiter sanft in der FAS.
Für die Generation der über Vierzigjährigen, zu der Autor Bessing zählt, mag der Einsatz von Smartphones zum Austausch von Säuselbotschaften auf gefühlt jeder zweiten Seite des Buches noch so besonders sein, wie uns heute im Rückblick auf Goethes Zeiten das Eintreffen der Postkutsche erscheint. Es ist ja alles so total intensiv, der Austausch mittels digitaler Medien, alles so modern und doch romantisch usw. Auch wenn sich Rezensenten auf bekannten Bewertungsplattformen um Vergleiche wie „Digitaler Romeo“ oder „Werther 2.0“ bemühen, dürfte Bessings nervig ausufernde Beschreibungen kommunikativer Selbstverständlichkeiten des 21. Jahrhunderts bei jedem Digital Native lediglich eine gelangweilte Suche nach dem Schulterzuck-Emoticon hervorrufen.
Liebe tut weh, dieses Buch auch
„[…] Was bestimmte Kritiker, die ihr Hauptaugenmerk tatsächlich nur darauf legen, dieses Buch mit dem Wort Popliteratur zu neutralisieren oder damit, dass an ein paar Stellen das Wort iPhone vorkommt, scheinbar nicht wissen. Man muss diesen Text als ernsthafte Lebensrealität lesen und aufnehmen, danach kann man immer noch aufstehen, nach Hause gehen, kognitive Neurowissenschaften studieren und so tun, als dürfe Liebe nicht weh tun“, so Helene Hegemann weiter.
Liebe tut weh. Was aber noch mehr weh tut, ist die Lektüre dieses Buches: Keine gute Geschichte zu erzählen und dieses in einer stolpernden Sprache, ist keine gute Kombination. „Die Freude am schlechten Kunstwerk kann man sich nur in der Lyrik erlauben“, sagte einst Robert Gernhardt in seinen Essener Poetik-Vorlesungen. Dieser 300-seitige Roman verschwendet Lebenszeit. „Twittert und sendet es aus, hinaus in die Welt: Joachim Bessing, untitled, Roman!“, endet Goetz seine Rezension in der Zeit. Ich möchte meinem Tweet hinzufügen: Unbegabtenpreis für Literatur 2013.
Um uns aus einer Notsituation zu erretten, denke ich, sind wir selbst genauso verlogen wie die, denen wir diese Verlogenheit andauernd vorwerfen und derentwegen wir alle diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten, das ist die Wahrheit; wir sind überhaupt um nichts besser, als diese Leute, die wir andauernd nur als unerträgliche und widerliche Leute empfinden, als abstoßende Menschen, mit welchen wir möglichst wenig zu tun haben wollen, während wir doch, wenn wir ehrlich sind, andauernd mit ihnen zu tun haben und genauso sind wie sie.
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