Schwall und Scham

„Talking about music is like dancing about architecture.“
(Frank Zappa)

Früher gab es den Künstler und sein Werk. Das Werk trat gleichberechtigt neben die Person des Künstlers. Heute tritt ungebeten das Geschreibsel des Feuilletonisten hinzu. Hat man bei Film- und Buchkritiken nicht selten noch den Hauch einer Ahnung, worum es in dem rezensierten Werk ansatzweise gehen könnte, so scheint dies für Musikkritiker zunehmend irrelevant zu sein. Die Kritik ist kein Dienst am Rezipienten, sondern sich selbst oftmals genug.

Heute erscheint das neue Tocotronic-Album „Schall und Wahn“. Seit Tagen überbieten sich Magazine und Tagespresse gegenseitig mit ihrem Geschwurbel. Selbst Leser der Boulevardpresse wissen nach Tagen der vergeisteswissenschaftlichen PR-Berieselung, dass William Faulkner den Titel bei Shakespeare entliehen hat. Eine Ahnung, was einen nach dem Aufsetzen des Tonarms (von mir aus auch nach dem Einlegen der Silberscheibe) erwarten könnte, bekommt man nach der Lektüre freilich nicht geliefert. Vielmehr wächst der Zweilfel, ob die schreibenden Musikkritiker die besprochene Platte überhaupt gehört haben; gar ob dies für ihre Besprechung überhaupt noch wichtig ist.

Die Rezension tritt gleichbereichtigt als eigenständiges Werk neben das Opus des Künstlers. Ich will das alles nicht mehr lesen, sondern nur noch die Musik hören. Musikkritiker, ihr seid Schweine. Musikkritiker, ich verachte euch zutiefst.

Wohne Orte #6

Kicker

Dort, wo sich sonst die zum Kauf angebotene Kommode befand, die einst Brigitte Bardot gehört haben soll, steht plötzlich ein Kickertisch. Hamburger Berg goes Winterhude. Aber natürlich steht im Keller des Cafés nicht irgendein Kicker, sondern ein besonderer: die Spielrichtung verläuft entgegen allen Gepflogenheiten von links nach rechts. Zunächst stiftet dies Verwirrung, ist aber bei nährer Betrachtung wohlüberlegt.

Das Kneipensportgerät ist elementarer Bestandteil der Weihnachtsfeierlichkeiten, zu denen Personal, Stammgäste und Möbel geladen sind. Der ungewohnte Seitentausch ist nicht etwa — wie man zunächst meinen könnte — das Ergebnis einer fehlerhaften Montage, sondern dient dem Training der Koordination von rechter und linker Gehirnhälfte. Dadurch soll kompensiert werden, dass der weihnachtsfeierbedingt in größeren Mengen ausgeschenkte Alkohol den Besuchern der Festivität übermäßig zu Kopfe steigt. Das funktioniert so gut, dass Personal, Stammgäste und Möbel bereits bedauren, dass es sich bei dem Tischfußballtisch lediglich um ein Leihgerät handelt. Obwohl sämtliche Flaschen erfolgreich geleert wurden, gibt es am Tag danach keinen Grund, einander wieder das „Sie“ anzubieten.

Soundtrack meines Lebens: My Funny Valentine

In der CD-Abteilung einer großen Elektromarktkette; die bestsortierte Jazzabteilung der Stadt: Eine noch recht jugendlich wirkende Mutter hält das Cover des 1959 erschienenen Albums „Chet“ in der Hand. „Einmal diese Lippen küssen“, sagt sie halb träumend zu ihrer schon recht erwachsen wirkenden Tochter. Ich habe ein späteres Bild des großen Trompeters vor Augen: das eines vom Leben gezeichneten alten Mannes; keine Zähne im Mund und tiefe Falten im Gesicht, seine Bewegungen sind langsam und er ist vom Heroin gezeichnet. Ich lasse allerdings Mutter und Tochter in ihren Illusionen, denn wer küsst schon gern einen zahnlosen Junkie?

1959 allerdings sah Chet Baker tatsächlich noch aus wie ein James Dean mit Trompete. Niemand anders hat dieses Instrument so gefühlvoll gespielt, so lässig. Er war wahrlich kein Sänger und dennoch hat seine Art zu singen den Jazz geprägt. Er war kein großer Komponist, aber ein beeindruckender Interpret. Und sicher hat seinem Aufstieg nicht geschadet, dass er so fotogen war wie kein ein anderer Jazzmusiker.

Ein paar Jahre später schon begann Chet Bakers rasanter Fall: bei einer Schlägerei verlor er seine Zähne, der Drogenkonsum hinterließ seine Spuren. Dennoch war er musikalisch bis kurz vor seinem Tod zu musikalischen Glanzleistungen fähig — auch wenn er manchmal etwas fahrig wirkte, Einsätze verpasste oder Texte vergaß. In seinen letzten Jahren entstanden beeindruckende Aufnahmen wie „Live in Tokyo“ (1987), aus der obigen Version von „My Funny Valentine“ stammt; aber auch die Zusammenarbeit mit dem belglischen Gitarristen Philip Catherine oder die nur zwei Wochen vor seinem Tod enstandenen Konzertmitschnitte gemeinsam mit der NDR-Bigband verdienen Erwähnung. Am 13. Mai 1988 fiel er unter ungeklärten Umständen aus einem Amsterdamer Hotelfenster und war sofort tot. Bruce Webers wunderbare Filmbiografie „Let’s Get Lost“ (1988) zeigt einfühlsam alle Höhen und Tiefen aus Chet Bakers bewegtem Leben. Ein tragischer Held — für immer unvergessen.

Chet Baker höre in glücklichen Momenten; Chet Baker höre ich in traurigen Momenten. Chet Baker kann man in jeder Lebenslage hören. Sogar eine Weihnachtsplatte gibt es von ihm, die einen vergessen lässt, dass „Last Christmas“ je komponiert wurde.

Dies ist ein Beitrag aus meiner Serie “Der Soundtrack meines Lebens”. Weitere Beiträge dazu finden sich hier.