Wer kennt den Weg?

Am allerschönsten war es doch zu Haus,
Und doch zog’s mich einst in die Welt hinaus.
Und in der Ferne suchte ich mein Glück,
Wer kennt den Weg, den Weg zurück.

(Johnny Cash/Günter Loose)

In der U-Bahn neben mir sitzt eine etwas hilflos wirkende alte Frau. In ihrer Hand ein bereits im Ansatz verwelkter Blumenstrauß und ein kleiner Zettel mit ein paar unlesbaren Worten darauf. Sie fragt mich nach dem Weg zu einem Friedhof, aber ich kann sie nicht verstehen.

Sollte ich je wieder in einem Bewerbungsgespräch nach meinen Schwächen befragt werden, so antwortete ich, dass ich die Erläuterung des Liniennetzplanes der Berliner Verkehrsbetriebe auf Griechisch jedenfalls nicht so gut beherrsche.

Der Musikkritiker

Es gehört zu meinen Pflichten
Schönes zu vernichten. –
Als Musikkritiker.

(Georg Kreisler)

Schon damals in der Bar war ihm das Erscheinen des Musikkritikers suspekt. Zwar wurden sie einander nie vorgestellt, doch erkannte er den Musikkritiker sofort. Ein paar Wochen später begegneten sie sich zufällig auf der Straße. Ganz nah gingen sie aneinander vorbei – fast konnten sie gegenseitig ihren Atem spüren. Der Musikkritiker wusste vermutlich nicht, wer er war. Obwohl er noch nie in seinem Leben die Hand gegen irgendjemanden erhob, hätte er dem Musikkritiker damals am liebsten so richtig eins auf die Fresse gehauen.

Er musizierte zwar nur leidlich und der Musikkritiker hat nie auch nur einen Ton von ihm gehört, geschweige denn ein Wort über ihn geschrieben. Trotzdem glaubte er, gute Gründe gehabt zu haben, den Musikkritiker zu verprügeln. Noch lange danach, meistens dienstags, bereute er ein wenig die verpasste Chance. Geändert hätte es damals aber auch nichts. – Zumindest nicht zum Guten.

Wohne Orte #21

Alle “Wohne Orte”: hier.

Eine ganz und gar langweilige Reisegeschichte

HAM, Juni 2009

„Ich möchte den Totenkopf des Mannes
streicheln, der die Ferien erfunden hat.“

(Jean Paul)

Ich sitze in dem Café mit den großen Fensterscheiben, als eine Bekannte ihr kaputtes Fahrrad vorbeischiebt. Wir winken einander zu, sie kommt herein und setzt sich zu mir. Alsbald erzählt sie mir von den Vorzügen des Reisens: drei Wochen weilte die Bekannte gerade ohne Spanischkenntnisse allein in Kolumbien. Ein wenig bewundere ich sie für ihren Unternehmungsgeist.

Für mich spielte das Reisen nie eine besonders große Rolle: In meiner Kindheit war es aus familiären Gründen nicht möglich, später hat es sich mir nie wirklich erschlossen. Ganz im Gegenteil: Wenn ich ganz neu an einem Ort ankomme, verspüre ich so etwas wie einen Ortswechselschock – eine Art innere Unruhe. Diese hält in der Regel mehrere Tage an, bis ich mich mit meiner neuen Umgebung vertraut gemacht habe. Erst wenn ich weiß, wo es das Frühstück, einen guten Kaffee und eine Tageszeitung gibt, wie der öffentliche Nahverkehr am Urlaubsort funktioniert, oder wo ich einen Internetzugang habe, etc., kann ich langsam damit beginnen, mich ein wenig zu entspannen. Meistens ist dann aber der gebuchte Urlaub bereits wieder vorbei. Insbesondere Rundreisen wären für mich daher völlig undenkbar.

Die Bekannte fragt mich, wohin meine bislang weiteste Reise ging. Ich tue, als müsse ich nachdenken, dabei habe ich Europa nie verlassen: Vor vielen Jahren weilte ich einmal im Januar für zehn Tage auf Fuerteventura. Allerdings handelte es sich um eine eher unfreiwillige Reise zu einer Art Tagung.

„Fahr doch mal ein paar Tage weg, entspanne dich“, lautet häufiger der gutgemeinte Rat von Freunden. Aber was soll schon woanders anders sein – von der Räumlichen Umgebung einmal abgesehen? Ich kann das nicht; lieber bleibe ich ein paar Tage in Hamburg oder Berlin, vertrödele den Tag im vertraueten Umfeld, gehe dort frühstücken, wo es den besten Käse und den leckersten Cappuccino gibt, und anschließend vielleicht in eine Ausstellung. Alles Dinge, die ich an einem Urlaubsort womöglich auch täte – nur ohne ein gezwungenes Wegfahren um des Ortswechsels willen. Und vor allem ohne Ortswechselschock.

Nur sehr wenige Male hat man es in den letzten Jahren geschafft, mich zu einer Urlaubsreise zu bewegen: nach Rügen, Madeira und sogar nach Bayern. Erst einmal am Ziel angekommen, war es dann auch immer ganz schön. – Allerdings war dies sicher auch immer ein großes Stück weit der angenehmen vertrauten Begleitung geschuldet. (Selbst die reiselustige Bekannte gab zu, dass das Alleinreisen für sie kein Ideal sei.)

Warum diese langweilige Reisegeschichte aufschreibe? Das obige Foto habe ich zufällig gerade auf meinem Rechner wiedergefunden – ich wollte es gern veröffentlichen, aber nicht so ganz für sich allein stehen lassen.

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