Urlaub in Berlin

Brunnenstraße, Berlin-Mitte

Es ist Sommer und warum im Sommer nicht dorthin fahren, wo es schön ist? Nach Berlin. Das ist naturgemäß kein richtiger Urlaub, wie man ihn im Katalog bestellt; mit Strand und Meer oder Bergen und Schnee. Ich war schon einmal hier für ein paar Jahre, es ist noch nicht allzu lange her, das ist gut, denn so bin ich, obschon hier alles ständig im Wandel ist, noch einigermaßen orientiert. Kein Strand, keine Berge, kein Ortswechselschock – das ist gut. Ich wollte nur ein paar Tage bleiben, nun sind schon ein paar Wochen daraus geworden, genau genommen Monate. Ich muss aufpassen, dass mich dieses Berlin nicht wieder kriegt, so wie es mich damals schon einmal bekommen hat, also plane ich seit Wochen meine baldige Abreise.

Es ist also kein richtiger Urlaub, mit Erholung bei einem guten Buch und viel Schlaf, wie man es sich immer vorstellt, wenn man an Urlaub denkt. Es ist nicht einmal eine Städtereise in eine der aufregenden Metropolen dieser Welt, New York oder meinetwegen Paris. Es ist einfach nur die kontinuierliche Planung meiner Abreise von einem sehr vertrauten Ort, an dem mich eigentlich nichts hält, und an dem ich bleibe, weil mich woandershin auch nichts zieht und schon gar nicht jemand. Der Rest ist überwiegend Wachzeitverbringung.

Zentrum meines sogenannten Urlaubsaufenthaltes ist dieses Mal Berlin-Mitte. Ich tue hier, was man in Berlin-Mitte zu tun pflegt: Morgens gehe ich frühstücken, irgendwas mit französischem Käse, mittags esse ich immerzu Pastrami-Sandwiches, nachmittags sitze ich in Kaffees und trinke Flat White. Abends besuche ich Restaurants, Bars, Clubs und Galerien. All dies wird nur unterbrochen von unvermeidlichen Gesprächen mit Menschen über Projekte. Projekte sind gut, denn sie haben einen definierten Schlusszeitpunkt, sie passen zu Berlin, wo an jeder Ecke etwas aufpopt, was contemporary ist: Bars, Clubs, Galerien und Beziehungen. Naturgemäß kommen die meisten Projekte nie zustande und die anderen bringen kein Geld ein. Mit Ersterem lernt man umzugehen und Letzteres wird einfach im Nachhinein als Kunst deklariert. Es ist wie immer alles eine Frage der Narration. Das Schöne an Klischees ist, dass sie so oft zutreffen, denke ich und blicke in den Spiegel und sehe einen Mann mit Vollbart, großer Hornbrille und einem Jutebeutel, in dem sich ein paar leere Notizbücher und ein Ladegerät für ein mobiles Telefon befinden.

Das Wichtigste in Mitte sind Kontakte. Man muss hier nicht nur Leute kennen, man muss die richtigen Leute kennen. Wenn ich groß bin, mache ich eine Rating-Agentur für Mitte-People auf. Als Bewertungsfaktoren fließen ein:

  • Gästelistenplätze (gewichtet nach Bedeutung der Veranstaltung): 5-20 Punkte, Zugang zur VIP-Lounge: 5 Bonuspunkte.
  • Auf der Fashion Week in der ersten Reihe sitzen: 10 Punkte, dabei ein überteurtes, aber nicht schönes Designer-Kleid tragen: 5 Bonuspunkte.
  • Über den roten Teppich auf der Berlinale gehen: 25 Punkte, Foto zusammen mit Filmsternchen aus Amerika: 5 Bonuspunkte.
  • Im angesagtesten Coffee Shop der Stadt kennen sie Deinen Namen: 10 Punkte.
  • Türsteher erkennt Dich und freut sich, wenn er Dich sieht: 15 Punkte, Türsteher lässt Dich an der Warteschlange vorbeiziehen: 5 Bonuspunkte.
  • DJ zur Begrüßung umarmen: 10 Punkte, DJ-Kumpel erfüllt einen Musikwunsch: 5 Bonuspunkte.
  • Küsschen von der Barfrau zur Begrüßung: 20 Punkte, Barfrau gibt einen Drink aus: 10 Bonuspunkte.
  • Die wichtigen PR-Agenturen der Stadt nehmen Dich auf ihren C-Promi-Verteiler auf: 10 Punkte, die Agenturen bemustern Dich mit neuartigen Drinks, Klamotten und Gadgets: bis zu 30 Bonuspunkte.
  • Mit dem VIP-Shuttle nach Hause gebracht werden: 50 Punkte.
  • Eine Galerie trägt Deinen Namen: 100 Punkte.

All das multipliziert man mit dem Klout-Score, der versucht, die Bedeutsamkeit von Personen in Social Networks zu erfassen. Das Ergebnis hat wie bei Ratings zur Folge: Wer hat, dem wird gegeben – noch mehr Gästelistenplätze und manchmal auch falsche Freundschaften mit Menschen, die man nicht mag, und die einen auch nicht mögen, aber einen ähnlich hohen Mitte-Score aufweisen.

Und während ich auf einer der vielen Bürowärmungszelebrationen herumstehe und über einen fancy Namen für meine Menschenbewertungsagentur nachdenke, um einem der vielen Geschäftsengel möglichst viel Kapital aus dem Ärmel zu leiern, entdecke ich an der Bar eine schöne Frau in einem schönen Kleid. Wir lächeln einander zu und gehen auf die Dachterrasse. Außer uns ist nur noch ein Heizpilz da; ich sage, ach wie romantisch, dann plötzlich küssen wir uns leidenschaftlich. Anschließend verrät sie mir ihren Namen und sagt, dass sie Atomphysikerin sei und schon immer mal jemanden mit Bart küssen wollte. Das Experiment ist gelungen. Zwei Sätze, noch ein Kuss, kein Austausch von Kontaktdaten. Berlin-Mitte, ein immerwährender Karneval. Und weiter zur nächsten Verabredung.

Man weiß, dass man sich von so einem Ereignis nicht aus der Bahn bringen lassen darf, genau wie man sich niemals in DJanes, Türsteherinnen, Agenturkolleginnen und Bloggerinnen verlieben darf. Visier herunterklappen und weiter. Trotzdem denke ich plötzlich, dass Berlin ja gar nicht so schlecht ist, wie alle immer sagen, also, wie ich immer sage, und dass hier ja wohl doch einiges möglich ist usw. Und wie ich mich dabei ertappe, mir die Hauptstadt schön zu reden, folgt die Erdung in Form eines dicken Türstehers einer Bar, die eigentlich ein viel zu kleiner Club ist. Es ist nicht mein erster Besuch hier und trotzdem habe ich immer ein ungutes Gefühl, wenn jemand an der Tür steht, den ich nicht kenne, und, was noch schlimmer ist, der mich nicht kennt. Was ich mit dem Laden zu tun hätte, fragt er mich, und ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich hier gelegentlich Getränke trinke und seltener, so es die Umstände zuließen, auch tanze. Dem Türsteher gefällt die Antwort nicht, aber vor allem gefalle ich ihm nicht und es tritt eine Art Verhörsituation, für die man Berlin, insbesondere aber die Berliner Türsteherschaft schnell hassen lernt. Er hält mich für einen Werbefuzzi, und er scheint Werbefuzzis nicht zu mögen. Ob ich in einer Agentur arbeite, fragt er und ich setze mein Pokerface auf und sage nein, was nur noch halbrichtig ist. Er hat Menschenkenntnis, sonst wäre er kein Türsteher, und bohrt weiter. Ob ich in einem Internetunternehmen arbeite. Ich verneine erneut. Was ich denn mache, will er wissen. Ich bin Autor, sage ich, was ebenso halb gelogen ist, wie meine Auskunft zu meinem Werberdasein, aber das ist egal, die Antwort scheint ihm zu gefallen. Er lässt mich endlich in den Laden, der viel zu voll und viel zu laut und viel zu verraucht ist. Und ich frage mich, wozu das alles, und ärgere mich, dass ich die unwürdige Türsteherprozedur über mich habe ergehen lassen und trinke kein Getränke und tanze keinen Tanz und verlasse nach wenigen Minuten den Laden wieder, um unangeschnallt im Taxi durch den Berliner Sommerregen dorthin zu fahren, was ich gerade mein Zuhause nenne, was aber kein Zuhause ist, weil ich hier nur Gast bin. Und während ich im Taxi sitze, denke ich, dass es doch alles nicht so doll ist in diesem Berlin und dass es Zeit wird, die Stadt wieder zu verlassen, bevor sich der Running Gag meiner Anwesenheitspermanenz in meinem Freundeskreis manifestiert. Und irgendwann werde ich zurückkommen, weil ich es eigentlich ja mag, und dann geht wieder alles von vorne los.

 

___
Diesen Text habe ich gern für das wunderbare Magazin BLANK geschrieben. In Ausgabe 01/2012 wurde er veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe kann hier heruntergeladen werden.

Der Kletterer

Als der Ich-Erzähler die Bar verlässt ist es bereits hell. Obwohl es auch andere Möglichkeiten gegeben hätte, bestreitet er seinen Heimweg allein und zu Fuß. Die Stille im Park, der gewöhnlich an sonnigen Tagen von den Schönsten der Stadt überflutet ist, gefällt ihm. Während er darüber sinniert, um wieviel größer die Lebensqualität der Anlage wäre, verböte man Menschen den Zutritt zu ihr, erblickt er in einer Baumkrone einen Mann. Am Fuß des Baumes steht eine Frau, die den Kletter anfleht, zu ihr herab zu steigen. (Neben der Frau stehen drei leere Weinflaschen.)

Der Ich-Erzähler erkennt die Situation und ist bereit für eine gute Tat. Eingedenk seiner Höhenangst verzichtet er darauf, selbst hinauf zu klettern, um den Kletterer zu holen, sondern vertraut auf die Macht des Wortes. Der Ich-Erzähler gibt sich als ziviler Parkwächter aus, der die Aufgabe habe, Betrunkene am Erklimmen des Laubwerkes zu hindern. Erwartungsgemäß zeigt sich der Kletterer wenig zugänglich für gute Argumente des selbsternannten Parkwächters, der überzeugend darlegt, dass jüngst vorgenommene Ultraschallmessungen morsches Geäst zum Vorschein brachten. Gefahr, Gefahr! Vielmehr animiert die Hysterie seiner Freundin den Kletterer dazu, immer höhere Höhen zu erklimmen.

Auch der Hinweis auf die hinzuzuziehende Rettungsfeuerwehr, die ihn mit einer Drehleiter holen werde, stimmt den immer widerspenstiger werdenden Kletterer nicht um. Jetzt fleht die Freundin den Parkwächter an: „So tun Sie doch was, so tun Sie doch was!“ (Dies wiederum erfreut den Parkwächter; weniger die Hysterie als das trotz fortgeschrittener Betrunkenheit verwendete höfliche Sie. Der Parkwächter fühlt sich in seiner noch neuen Rolle respektiert und entscheidet sich, die härteren Rettungsgeschütze aufzufahren.) Nach Androhung des Einsatzes der Gebirgsjäger und Zuhilfenahme einer schießenden Flugdrohne tritt der Kletterer eingeschüchtert den Abstieg an.

Unten angekommen fällt dem Kletterer seine Freundin erleichtert um den Hals. Der Parkwächter wiederum hat große Mühe, sich ebendieses Schicksal vom Hals zu halten. Man reicht einander die Hand. Der Kletterer lässt sich das Versprechen abringen, künftig das Klettern auf Parkbäume zu unterlassen, der Parkwächter verzichtet auf den Platzverweis. Alle sind zufrieden. Allein und zu Fuß setzt der Ich-Erzähler seinen Heimweg fort. So viel Happy End ist selten.

Möve im Felsenkeller

Möve im Felsenkeller

Wenn es so etwas wie eine „ehrliche Kneipe“ überhaupt gibt, dann ist es die Möve im Felsenkeller in Berlin-Schöneberg. Unaufgeregt geht es in der rustikal möblierten und wunderbar schummrig ausgeleuchteten Gaststätte zu. Es gibt Bier vom Fass und auf der Karte stehen kleine Gerichte wie Matjes oder Schinkenknacker.

Keine Musik spielt nervend im Hintergrund. Wir blicken in die Runde und ums herum sitzen Menschen aus der Nachbarschaft, die miteinander reden und trinken und wir reden und trinken ebenfalls. Die anderen Gäste sind zumeist deutlich älter als wir. Mein Freund T. sagt, das mache Hoffnung und wir stoßen auch darauf an.

Die Kellnerin mit der mütterlicher Strenge ist aufmerksam und sorgt dafür, dass unsere Gläser stets gefüllt sind. Obwohl die Bedienung eines Zapfhahns keine Raketenwissenschaft ist, glaube ich, der Mann hinter der Theke hat das Geheimnis des perfekt gezapften Bieres entdeckt. Nirgends nirgends schmeckt es so gut wie hier, wohltemperiert. Kurz vor Schluss wollen den Aufbruch einleiten, indem wir zwei kleine Biere bestellen. Kleine Biere gibt es nicht, also nehmen wir zwei große. Das ist auch besser so.

Tanzverbot

Bereits seit längerer Zeit waren sie einander flüchtig bekannt. Zufällig trafen sie sich an der Bar des kleinen Clubs, der wie alle kleinen Clubs auf St. Pauli früher einmal ein Bordell gewesen war. Gründonnerstag 2004. Nach ein paar Drinks küssten sie sich leidenschaftlich, plötzlich ging das Licht an und die Musik aus. Tanzverbot. Beide gingen allein nach hause. Später begegneten sie sich noch viele Male, verloren aber niemals ein Wort darüber, was geschehen war.