Balkonien etc.

Balkon

Einen Balkon müsste man haben, denkt man sich, wenn man in einer Wohnung ohne einen solchen offenen, betretbaren Vorbau, der aus einem Stockwerk eines Gebäudes herausragt, lebt. Oh, wie schön ist Balkonien, man sitzt dort mit einem guten Buch bei einem Glas Rotwein und genießt den Blick auf die untergehende Sonne.

Tatsächlich zeigt das Thermometer statt der angekündigten 22 meist lediglich 4 Grad Celsius. Deutlich hörbar vernimmt man wochentags hämmernden Baulärm und am Wochenende rasenmähende Kleingärtner, deren Grillfleischgeruch einem zu jeder Tageszeit perfide in die Nase kriecht. Kehrt vorübergehend Ruhe ein, beginnt es umgehend zu regnen. Durch die reinigungsbedürftige Glasscheibe der Balkontür beobachtet man dann, wie Gartenmöbel auf der an dem Gebäude anhängenden Freifläche von der Witterung gezeichnet werden.

Nur einen Tag im Jahr genießt man das Leben als Balkonbesitzer. Dann blendet die Sonne allerdings gerade so stark, dass das Lesen eines Buches unmöglich gemacht wird und außerdem ist an diesem Tag niemals trinkbarer Rotwein im Haus. Der monatliche zu entrichtende Mietzins einer Balkonage in einer deutschen Großstadt dürfte in etwa der Miete eines Briefkastens in Panama entsprechen. Dafür könnte man stattdessen einmal im Jahr einen wirklich schönen Urlaub verbringen. Mit Sonne, Ruhe und Rotwein. Oh, wie schön ist Balkonien

Urlaub in Berlin

Brunnenstraße, Berlin-Mitte

Es ist Sommer und warum im Sommer nicht dorthin fahren, wo es schön ist? Nach Berlin. Das ist naturgemäß kein richtiger Urlaub, wie man ihn im Katalog bestellt; mit Strand und Meer oder Bergen und Schnee. Ich war schon einmal hier für ein paar Jahre, es ist noch nicht allzu lange her, das ist gut, denn so bin ich, obschon hier alles ständig im Wandel ist, noch einigermaßen orientiert. Kein Strand, keine Berge, kein Ortswechselschock – das ist gut. Ich wollte nur ein paar Tage bleiben, nun sind schon ein paar Wochen daraus geworden, genau genommen Monate. Ich muss aufpassen, dass mich dieses Berlin nicht wieder kriegt, so wie es mich damals schon einmal bekommen hat, also plane ich seit Wochen meine baldige Abreise.

Es ist also kein richtiger Urlaub, mit Erholung bei einem guten Buch und viel Schlaf, wie man es sich immer vorstellt, wenn man an Urlaub denkt. Es ist nicht einmal eine Städtereise in eine der aufregenden Metropolen dieser Welt, New York oder meinetwegen Paris. Es ist einfach nur die kontinuierliche Planung meiner Abreise von einem sehr vertrauten Ort, an dem mich eigentlich nichts hält, und an dem ich bleibe, weil mich woandershin auch nichts zieht und schon gar nicht jemand. Der Rest ist überwiegend Wachzeitverbringung.

Zentrum meines sogenannten Urlaubsaufenthaltes ist dieses Mal Berlin-Mitte. Ich tue hier, was man in Berlin-Mitte zu tun pflegt: Morgens gehe ich frühstücken, irgendwas mit französischem Käse, mittags esse ich immerzu Pastrami-Sandwiches, nachmittags sitze ich in Kaffees und trinke Flat White. Abends besuche ich Restaurants, Bars, Clubs und Galerien. All dies wird nur unterbrochen von unvermeidlichen Gesprächen mit Menschen über Projekte. Projekte sind gut, denn sie haben einen definierten Schlusszeitpunkt, sie passen zu Berlin, wo an jeder Ecke etwas aufpopt, was contemporary ist: Bars, Clubs, Galerien und Beziehungen. Naturgemäß kommen die meisten Projekte nie zustande und die anderen bringen kein Geld ein. Mit Ersterem lernt man umzugehen und Letzteres wird einfach im Nachhinein als Kunst deklariert. Es ist wie immer alles eine Frage der Narration. Das Schöne an Klischees ist, dass sie so oft zutreffen, denke ich und blicke in den Spiegel und sehe einen Mann mit Vollbart, großer Hornbrille und einem Jutebeutel, in dem sich ein paar leere Notizbücher und ein Ladegerät für ein mobiles Telefon befinden.

Das Wichtigste in Mitte sind Kontakte. Man muss hier nicht nur Leute kennen, man muss die richtigen Leute kennen. Wenn ich groß bin, mache ich eine Rating-Agentur für Mitte-People auf. Als Bewertungsfaktoren fließen ein:

  • Gästelistenplätze (gewichtet nach Bedeutung der Veranstaltung): 5-20 Punkte, Zugang zur VIP-Lounge: 5 Bonuspunkte.
  • Auf der Fashion Week in der ersten Reihe sitzen: 10 Punkte, dabei ein überteurtes, aber nicht schönes Designer-Kleid tragen: 5 Bonuspunkte.
  • Über den roten Teppich auf der Berlinale gehen: 25 Punkte, Foto zusammen mit Filmsternchen aus Amerika: 5 Bonuspunkte.
  • Im angesagtesten Coffee Shop der Stadt kennen sie Deinen Namen: 10 Punkte.
  • Türsteher erkennt Dich und freut sich, wenn er Dich sieht: 15 Punkte, Türsteher lässt Dich an der Warteschlange vorbeiziehen: 5 Bonuspunkte.
  • DJ zur Begrüßung umarmen: 10 Punkte, DJ-Kumpel erfüllt einen Musikwunsch: 5 Bonuspunkte.
  • Küsschen von der Barfrau zur Begrüßung: 20 Punkte, Barfrau gibt einen Drink aus: 10 Bonuspunkte.
  • Die wichtigen PR-Agenturen der Stadt nehmen Dich auf ihren C-Promi-Verteiler auf: 10 Punkte, die Agenturen bemustern Dich mit neuartigen Drinks, Klamotten und Gadgets: bis zu 30 Bonuspunkte.
  • Mit dem VIP-Shuttle nach Hause gebracht werden: 50 Punkte.
  • Eine Galerie trägt Deinen Namen: 100 Punkte.

All das multipliziert man mit dem Klout-Score, der versucht, die Bedeutsamkeit von Personen in Social Networks zu erfassen. Das Ergebnis hat wie bei Ratings zur Folge: Wer hat, dem wird gegeben – noch mehr Gästelistenplätze und manchmal auch falsche Freundschaften mit Menschen, die man nicht mag, und die einen auch nicht mögen, aber einen ähnlich hohen Mitte-Score aufweisen.

Und während ich auf einer der vielen Bürowärmungszelebrationen herumstehe und über einen fancy Namen für meine Menschenbewertungsagentur nachdenke, um einem der vielen Geschäftsengel möglichst viel Kapital aus dem Ärmel zu leiern, entdecke ich an der Bar eine schöne Frau in einem schönen Kleid. Wir lächeln einander zu und gehen auf die Dachterrasse. Außer uns ist nur noch ein Heizpilz da; ich sage, ach wie romantisch, dann plötzlich küssen wir uns leidenschaftlich. Anschließend verrät sie mir ihren Namen und sagt, dass sie Atomphysikerin sei und schon immer mal jemanden mit Bart küssen wollte. Das Experiment ist gelungen. Zwei Sätze, noch ein Kuss, kein Austausch von Kontaktdaten. Berlin-Mitte, ein immerwährender Karneval. Und weiter zur nächsten Verabredung.

Man weiß, dass man sich von so einem Ereignis nicht aus der Bahn bringen lassen darf, genau wie man sich niemals in DJanes, Türsteherinnen, Agenturkolleginnen und Bloggerinnen verlieben darf. Visier herunterklappen und weiter. Trotzdem denke ich plötzlich, dass Berlin ja gar nicht so schlecht ist, wie alle immer sagen, also, wie ich immer sage, und dass hier ja wohl doch einiges möglich ist usw. Und wie ich mich dabei ertappe, mir die Hauptstadt schön zu reden, folgt die Erdung in Form eines dicken Türstehers einer Bar, die eigentlich ein viel zu kleiner Club ist. Es ist nicht mein erster Besuch hier und trotzdem habe ich immer ein ungutes Gefühl, wenn jemand an der Tür steht, den ich nicht kenne, und, was noch schlimmer ist, der mich nicht kennt. Was ich mit dem Laden zu tun hätte, fragt er mich, und ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich hier gelegentlich Getränke trinke und seltener, so es die Umstände zuließen, auch tanze. Dem Türsteher gefällt die Antwort nicht, aber vor allem gefalle ich ihm nicht und es tritt eine Art Verhörsituation, für die man Berlin, insbesondere aber die Berliner Türsteherschaft schnell hassen lernt. Er hält mich für einen Werbefuzzi, und er scheint Werbefuzzis nicht zu mögen. Ob ich in einer Agentur arbeite, fragt er und ich setze mein Pokerface auf und sage nein, was nur noch halbrichtig ist. Er hat Menschenkenntnis, sonst wäre er kein Türsteher, und bohrt weiter. Ob ich in einem Internetunternehmen arbeite. Ich verneine erneut. Was ich denn mache, will er wissen. Ich bin Autor, sage ich, was ebenso halb gelogen ist, wie meine Auskunft zu meinem Werberdasein, aber das ist egal, die Antwort scheint ihm zu gefallen. Er lässt mich endlich in den Laden, der viel zu voll und viel zu laut und viel zu verraucht ist. Und ich frage mich, wozu das alles, und ärgere mich, dass ich die unwürdige Türsteherprozedur über mich habe ergehen lassen und trinke kein Getränke und tanze keinen Tanz und verlasse nach wenigen Minuten den Laden wieder, um unangeschnallt im Taxi durch den Berliner Sommerregen dorthin zu fahren, was ich gerade mein Zuhause nenne, was aber kein Zuhause ist, weil ich hier nur Gast bin. Und während ich im Taxi sitze, denke ich, dass es doch alles nicht so doll ist in diesem Berlin und dass es Zeit wird, die Stadt wieder zu verlassen, bevor sich der Running Gag meiner Anwesenheitspermanenz in meinem Freundeskreis manifestiert. Und irgendwann werde ich zurückkommen, weil ich es eigentlich ja mag, und dann geht wieder alles von vorne los.

 

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Diesen Text habe ich gern für das wunderbare Magazin BLANK geschrieben. In Ausgabe 01/2012 wurde er veröffentlicht. Die vollständige Ausgabe kann hier heruntergeladen werden.

München

München
München, 7. August 2010

München, ehemals Weltstadt mit Herz. Mal auf den Spuren König Ludwigs I., mal im Jüdischen Museum. Worte, die ich hier immer wieder sage, weil sie gut klingen, meine jeweilige Begleitung aber fast in den Wahnsinn treiben: mal Hacker-Pschorr, mal Oachkatzlschwoaf. Immer Sonnenschein, Surfer auf der Eisbachwelle und Bier im Englischen Garten etc.

Ich denke, dass alles immer so weitergehen müsse, aber das tut es naturgemäß nicht.

Phänomenologie des Bananentresors

Viele Jahre später sollte Bruno feststellen, daß die Welt
der Kleinbürger, die Welt der Angestellten und mittleren
Beamten toleranter, liebenswürdiger und aufgeschlossener ist
als die Welt der Aussteiger, der am Rande der Gesellschaft lebenden
jungen Leute, die damals durch die Hippies verkörpert wurden.

(Michel Houellebecq, Elementarteilchen)

Dinge, die ich grundsätzlich ablehne: Reisen, Einkaufen und – mit Einschränkungen – Obst. Wo all dies zusammenkommt, ist ein Fachgeschäft für Außerhausüberlebensausrüstungen in Hamburg-Barmbek. In diesem kann ein jeder in Kältekammern die passende Bekleidung für seine Expedition in die Ostantarktis genauso testen wie die Wasserfestigkeit von Regenjacken für eine Städtereise nach London unter einem künstlichen Wasserfall.

Der bei weitem nützlichste Gegenstand, den ich in diesem Laden entdecken konnte, ist der Bananentresor. Einst hielt man die Bananenschale hinsichtlich ihrer Schutzfunktion für die weiche Frucht für eine geniale Einrichtung der Natur – ein Trugschluss. Denn welcher Reisende kennt das Problem nicht? Da reist man, bepackt mit seinem schweren Rucksack, durch den nahen Osten und würde gern eine Banane essen. Sobald der Appetit auf die fruchtige Köstlichkeit aufkommt, stellt man fest, dass diese regelmäßig von den sich im Gepäck befindlichen Reiseführern „mit den bewährten reisepraktischen Infos und in der gewohnt lockeren Art“ zu Mus gemacht wird. (Heute erledigen das bücherersetzende elektronische Endgeräte.)

Das muss nicht so sein, denn heute gibt es Bananentresore. Ein praktischer gekrümmter Transportbehälter aus Kunststoff im fruchtigen gelb sorgt fortan für einen sicheren Transport der Musa. Das ist eine gute Sache, freut sich der Bananenfreund, und glaubt, dass damit all seine Probleme gelöst seien. Doch das ist weit gefehlt. Zwar hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die EU-Bananenverordnung den Krümmungsgrad von zu importierenden Bananen vorgebe, jedoch ist dies zum Leidwesen aller Banenentresorbesitzer nicht der Fall. Vielmehr ist lediglich eine Länge von mindestens 14 cm und eine Dicke von 27 mm vorgeschrieben.

Wie viele Mitfahrgelegenheiten, Züge und Flüge verpasst wurden, weil sich die Suche nach der in den Tresor passenden Banane weitaus schwieriger gestaltete als gedacht, ist bislang nicht bekannt. Der Verband bananentresorbesitzender Fruchtfreunde e.V. hat jedoch bereits eine Petition zur verbindlichen Reglementierung des Krümmungsgrades an die EU gerichtet.