Hamburg ist rot-orange. Überall, wohin man sieht: Jutebeutel und wallende Gewänder. Selbst mein beschauliches Wohnviertel haben sie bereits erreicht, stelle ich fest, während ich in meinem Stammcafé im Cappuccino herumrühre. Kahlköpfige Mönche posieren bereitwillig lächelnd zum Gruppenphoto und Tausende meditierende Hausfrauen aus der schwäbischen Provinz pilgern in das Tennisstadion, um vom Ozean der Weisheit zu erfahren, wie sie den Kreislauf des Leidens durchbrechen können. Beschwingt von so viel Erkenntnis erkunden sie anschließend die touristischen Attraktionen der Hansestadt. Im Wind wehen dabei unentwegt die ihnen um die Hälse hängenden Plastikschilder, als wären diese nicht bloß die Zugangsberechtigung zum Tennisplatz, sondern auch gleich die Eintrittskarte ins Nirvana.
Niemand in der Stadt aber scheint sich der in der Luft liegenden positiven Stimmung entsagen zu können. Auch mich lässt der Besuch seiner Heiligkeit, des 14. Dalai Lamas, nicht kalt. Mitgefühl empfinde ich in diesem Moment vor allem für die neben mir sitzende alleinerziehende Mutter des hyperaktiven Kleinkindes, das seit einer gefühlten halben Stunde sämtliche in greifbarer Nähe befindlichen Speisekarten, Aschenbecher sowie Salz- und Zuckerstreuer auf meinem Tisch platziert, indem er auf diesen größtmögliche Kraft ausübt. Salz- und Zuckerstreuer drohen zu zerbersten. Ich bleibe gelassen übe mich in Gelassenheit – auch ohne Meditation. Die arme Mutter muss dieses anstrengende Balg den ganzen Tag ertragen. Mitgefühl empfinde ich aber auch mit dem Jungen. Völlig unerwartet ruft die Mutter den Jungen nach einer gefühlten Stunde zur Ordnung. Er heißt Herbert. Mein Mitgefühl für die Mutter entweicht langsam, denn ich habe gelernt: kein Handeln bleibt ohne Folge [siehe auch Karma], das gilt natürlich auch für die Namensgebung des Nachwuchses.