Sylt

Westerland auf Sylt, 7. März 2012

„Die Wogen, ihr Grollen, die Wolken vor und über mir,
der Strand, die Dünen, das graue Gras, es war alles mein.“

(Emil Nolde, Sylt 1930)

Noch einmal die dicke Winterjacke anziehen und einige Stunden mit der ruckelnden Regionalbahn durch das flache Marschland fahren, schließlich über den elf Kilometer langen Damm die Insel erreichen.

Ein Jahr, sechs Monate und 23 Tage ist es her, dass ich zuletzt das Meer erblickte. Der Wetterbericht für heute hat Kälte, Sturm und Regen vorausgesagt und sich dieses Mal nicht geirrt. Das ist okay, weil die Sehnsucht nach dem Meer stärker war als der Gegenwind. Ich gehe spazieren und immer wieder bleibe ich stehen, um einfach nur minutenlang in die Weite zu schauen.

Ich will noch eine Postkarte schreiben, bevor ich die Insel wieder verlasse, aber es ist nicht leicht, ein Motiv ohne Sonnenuntergangskitsch, Strandkörbe oder Möwen zu finden. Die Spröde der Natur, die sich Jahr für Jahr ein Stück der Insel zurückerobert, findet vor den Objektiven der Postkartenindustrie nicht statt. Viel zu oft muss man sich für das kleinste Übel entscheiden, weil sonst die Worte ungeschrieben blieben. Ich werfe die Karte in den Briefkasten und einen Augenblick später wünschte ich, ich könnte sie wieder aus ihm herausholen. Aber dafür ist es zu spät.

Bevor mein Zug fährt, gehe ich noch einmal zurück an den Strand: die See, die Wellen, die Gischt, die Fragen. Aber naturgemäß keine Antworten.

La mer

Strand in Westerland, Sylt
Westerland auf Sylt, 13. August 2010

Meine Damen und Herren, zur Abwechslung etwas Erfreuliches: Das Meer. Ja ja, werden Sie jetzt sicher sofort sagen, und fragen, was daran erfreulich sein soll. Sie werden auf all die ertrunkenen Seeleute hinweisen, die bei rauer See am Kap der guten Hoffnung ihr Leben ließen, und auf Piraterie, die Wilhelm Gustloff und auf all die sich selbst überschätzenden Freizeitschwimmer, die auch von  den vollbusigsten Baywatch-Retterinnen nicht mehr ins Leben zurückgeholt werden konnten. Vielleicht kommen Sie jetzt auch mit Offiziersanwärterinnen, die von der Takelage eines Segelschulschiffs fielen. Und obwohl sie das Wort „Takelage“ bis vor ein paar Wochen noch gar nicht kannten, werden Sie fragen, was an all dem erfreulich sein soll.

Wir schieben das – wie all die anderen unerfreulichen Dinge – einfach beseite. Obgleich ich nur ungern verreise, war ich zeitlebens immer gern am Meer. Für mich ist es nicht das Eintauchen ins Wasser, das den Reiz ausmacht. Darauf verzichte ich gern. Es sind der Blick in die Ferne, die endlose Weite, die gute Luft und das Rauschen der Wellen, die mich beglücken. – Am liebsten habe ich Spaziergänge am Meer im Herbst oder Winter, wenn es so richtig stürmt.

Aber auch im Sommer kann es am Meer einladend sein: Es ist Mitte August und die Sonne scheint. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie an der Nordsee. Natürlich möchte sie ins Wasser, hat aber keinen Badeanzug dabei. Im Drogeriemarkt des Ortes erwerben wir zu einem überhöhten Preis den schrillfarbigsten Bikini, den die Welt je gesehen, und ein Handtuch von einer Häßlichkeit, dass nicht einmal Touristen an mallorquinischen Swimmingpools es wagten, mit einem solchen Liegestühle zu blockieren. Aber das ist egal, denn es geht um das Gefühl, einmal, wenn auch nur für einen kurzen Moment, im Meer zu baden. Sie genießt es. Ich sitze am Strand und es ist schön, ihr dabei zuzuschauen. Ein frischer Wind weht mir um die Nase und trotzdem ist es angenehm warm. In trinke einen Schluck Bier aus der Flasche und in meinem Kopf summt Charles Trénet „La mer“.

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Charles TrénetLa mer

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Dies ist ein Beitrag aus meiner Serie “Der Soundtrack meines Lebens”.