Das Steuersystem ist kaputt

„Das Steuersystem ist nicht das, wofür ich es gehalten habe.“ Lange hielt Alice Schwarzer das Steuersystem für den Wegbereiter von Raffgier und Steuerbefreiung. Jetzt sieht sie, dass sie sich geirrt hat. In Wahrheit zerstöre es die Grundlagen ihres Schweizer Nummernkontos.

Deutschlands bekannteste Feminismus-Expertin Alice Schwarzer bekennt sich geirrt zu haben: „Das Steuersystem ist nicht das, wofür ich es gehalten habe“, schreibt Schwarzer in einem Beitrag für das Feuilleton der ‚Frankfurter Allgemeinen FDP-Mitgliederzeitung‘. Bislang habe sie geglaubt und verkündet, dass das Steuersystem das ideale Medium der Bereicherung, der Steuerfreiheit und der Emanzipation sei. Nach der Steueraffäre um Uli Hoeneß und den neuen Erkenntnissen über Lücken im Steuergeheimnis und dem CD-Ankaufwahn der Staaten kommt Schwarzer zu dem Schluss: „Das Steuersystem ist kaputt.“

Als Medium der totalen Einnahmenkontrolle untergrabe es die Grundlagen der freiheitlichen Wirtschaft, als Vehikel der Betriebsprüfungsspionage wirke es auch ökonomisch zerstörerisch. Der Skandal, schreibt Schwarzer, „betrifft auch jene, die glauben der Totalüberwachung zu entgehen, indem sie Selbstanzeigen nicht benutzten“. Schwarzer ist Gründerin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift Emma, sie hat seit Jahren im Fernsehen, in der BILD und auch sonst überall die Moralkeule geschwungen.

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Blickt nicht zurück

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Nun ist sie wieder da, die Zeit der Jahresrückblicke. Wer in den letzten Wochen keine Postkarten mit Weihnachtsmännern darauf verschickten wollte, schreibt zum Jahreswechsel eine lange E-Mail an alle Bekannten, die ohnehin keine 45 Cent für eine Briefmarke wert gewesen wären.

2013 war wieder einmal ein gutes Jahr: die FDP ist aus dem Bundestag geflogen, kein Atomkraftwerk ist explodiert und Günter Grass hat kein Gedicht geschrieben. Auch sonst war naturgemäß wieder einmal alles ganz toll und aufregend. Wer auch nur ein wenig Übung darin hat, auf seiner Website die eigene Durchschnittskarriere zu einer einmaligen Megaerfolgsstory zu pimpen, dem fällt es leicht, ein ganz mäßiges Jahr in 10.000 Zeichen so hochzujubeln, als hätte der neue Papst soeben Pussy Riot zu Priesterinnen geweiht. Glück ist eben die Abwesenheit von Unglück. Aber freut Euch nicht zu früh, denn alles bleibt, wie es war, oder wird, wie es ist: die FDP hat noch ein paar Mark Wahlkampfkostenerstattung unter dem Wiederauferstehungskopfkissen, die maroden Atommeiler sind noch nicht abgekühlt und Günter Grass ist die Tinte längst nicht ausgegangen.

Ich wünsche Euch ein besseres Jahr 2014. Und wenn Ihr Euch etwas Gutes, Wahres, Schönes vornehmen wollt: verzichtet nächstes Jahr auf das Jahresrückblickgeschreibsel.

In Hypnose: Trance Turbine

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Ein Raum in einem Raum, kein Fenster, die Wände weiß, auf dem Boden Sand. Darin: eine weiße Liege (bequem) und ein schwarzer Stuhl (mäßig bequem), eine Videokamera sowie ein Hypnotiseur und ich. Die ‚Trance Turbine‘, ein Kunstprojekt von Mika Neu. Der Künstler fragt in seiner Beschreibung: „Wie würde Kunst rezipiert, wenn man ihr frei und ohne Einfluss Dritter an einem völlig neutralen Ort begegnete?“

Man muss sich darauf einlassen können, bei manchen funktioniert es besser, bei anderen weniger gut, so der Hypnotiseur. Ich solle die Augen schließen und eins werden mit der Liege – erst die Füße, dann die Beine, dann der Oberkörper, dann die Arme, dann der Hals, dann der Kopf usw. Ja ja. Der Hypnotiseur fragt, ob ich ein Kribbeln in der Nase spüre, und plötzlich denke ich, es funktioniert ja doch, aber genau in diesem Moment befindet sich ein Insekt auf meiner Nase. Ich verscheuche es mit einer fuchtelnden Handbewegung und dann geht es weiter. Meine Augen sind geschlossen, Dämmerzustand. Ich solle mir einen angenehmen Ort vorstellen usw. Nun denn. Ich bin am Meer (oder wäre es lieber), ich lege mich auf ein Bett, das sich in einem leeren Raum befindet, ich träume, erwache,  setze mich an einen Schreibtisch und schreibe auf, was ich geträumt habe, hole einen Zettel aus meiner Hosentasche, auf dem steht: Ich habe Cello gespielt: BachNaturgemäß.

Das war’s auch schon mit der Hypnose: keine Schlange Kaa aus dem Dschungelbuch mit Spiralaugen, kein Schnippen mit dem Finger, wie es die Hypnotiseure im Fernsehen tun. Ich bin entspannt, etwas benommen und hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass ich jederzeit hätte aufstehen und gehen können. Ich öffne meine Augen, das Licht ist gleißend hell wie in einer nordkoreanischen Gefängniszelle bei Nacht. Falls mein Zahnarzt je bohren möchte, werde ich ganz konventionell um eine wirksame Betäubungsspritze bitten.

Reeperbahnfestival 2013, Teil 2: Kleine Haie, große Fische

Eric Pfeil & Der Süden
Eric Pfeil & Der Süden

Das Ärgerliche an Festivals sind die Undankbaren. Sie rennen von Künstler zu Künstler, die sie nur so halb interessieren, schauen hier und da mal vorbei, um zwischen den Liedern widerwillig zu applaudieren, manche tuscheln gar während der musikalischen Darbietung mit ihrer Begleitung, sie sind nie pünktlich am Veranstaltungsort, verlassen diesen aber stets während die Band noch spielt. Sie stören die Interessierten, die Fans, die Musiker. Manchmal auch mich. Aber ich bin auch einer von ihnen. Die Locations des Reeperbahnfestivals liegen im schlechtesten Fall kilometerweit auseinander und der Veranstaltungsplan ist so unübersichtlich, wie ihn der Schülerpraktikant von der Messie-Schule eben hinbekommen hat. (Ich bin nachsichtig, denn er hat es ja zum ersten Mal gemacht.) Dann will man eben auch schnell noch mal wo rein und kommt dann zu spät und steht in der letzten Reihe der überfüllten Konzerthalle und sieht nichts und hört kaum was, und tuschelt mit dem Nachbarn, ob denn der Soundcheck nicht gemacht wurde usw.; plötzlich ist man selbst einer von den Undankbaren: Kate Nash, James Blunt, Shout Out Louds, Kettcar – bei allen größeren Namen geht es mir so. Sie fesseln mich jeweils gerade einmal lose fünf Minuten.

Eric Pfeil und der Süden

So finde ich mein Musikglück in der Nische: In Angie’s Nightclub, wo Musikkritiker Eric Pfeil sein spätes Debüt gibt, sind vielleicht dreißig Menschen versammelt, die freudig zu seinen gefälligen Popsongs mit dem Fuß wippen. Okay, Musik für Musiker (Frank Spilker ist da) und Kritiker (Detlef Diederichsen ist da), könnte man sagen, es könnte alles etwas abwechslungsreicher sein, aber egal, es ist Herbst und da streicheln gute Popsongs mit schönen Melodien und hübschen Geschichten nun einmal die darbende Festivalbesucherseele. Ein paar von den Liedern bleiben im Gedächtnis hängen – und seitdem ich mir die Platte besorgt habe, habe ich sie rauf und runter gehört. Für den Moment erfreut mich die Musik. Wie es sich gehört, ist Eric Pfeil bei seinem ersten Konzert nervös, und als sich seine Gitarre nicht wie gewünscht stimmen lässt, kommen schnell Rufe nach einem Techniker aus dem Publikum. Trocken entgegnet der Debütant: „Ich brauche keinen Techniker, ich brauche einen Zivildienstleistenden.“ Die Gitarre stimmt zwar immer noch nicht so richtig, aber da ist das Konzert auch schon vorbei. Die resolute Herrin des Bühnenplans beendet die Show mit einer mafiöse Halsdurchschneidegeste für alle Anwesenden abrupt. „Das war eben unser letztes Lied.“ Schade.

Bernd Begemann Solo

Bernd Begemann
Bernd Begemann

Völlig überraschend laufe ich in einer sehr abseitigen Location, dem Nochtspeicher, in Bernd Begemann herein. Ich wähne mich zunächst auf einem Geheimkonzert, schließlich spielte Rapwunder Casper auch außerhalb des Festivalplans, finde den Auftritt dann aber doch später im sogenannten Programmheft. Aber warum soll man nicht auch einmal Glück haben? Wie schon bei Eric Pfeil habe ich auch hier das Gefühl, dass es die alten Männer auf den Bühnen sind, die Hoffnung machen. Der elektrische Liedermacher ist nun auch schon über fünfzig Jahre alt. Und trotz ein paar Pfunden zu viel,ist sein elvisesker Hüftschwung niemals peinlich. Er ist noch immer eines der größten Showtalente auf Deutschlands Bühnen. Oh, St. Pauli, Du hast mich umarmt, als mich niemand anders wollte … Auch wenn sich manche seiner Witze seit Jahrzehnten wiederholen, freue ich mich wahnsinnig, ihn nach lange Zeit wieder einmal live zu sehen, denn er ist live so viel besser als auf all seinen Platten der letzten Jahre. Leider befinden wir uns bereits im Zugabenteil. Zum Glück aber dauert der Zugabenteil bei Bernd Begemann länger als viele sonstige Showcases des Festivals. Auf Zuruf improvisiert er Coverversionen von Punk bis Rock, zum Halbplayback singt er die Beatles. Ich bin zwar zu spät gekommen, aber umso dankbarer.

Zugabe: Havariegefahr

Havariegefahr
Havariegefahr

Hungrig streife ich durch die Nacht und entdecke plötzlich zwei Jungs in maritimen Anglerhosen mit Ukulelen: Christian und Broder sind Havariegefahr, dem wohl ungewöhnlichsten Act des Festivals. Um den neuen Fischbrötchenladen mit dem Namen „Kleine Haie, große Fische“, ihres Freundes Heiner (ganz in der Nähe des Albersplatzes) zu bewerben, singen sie lustige Versionen von Seemannsliedern. Kennengelernt hat sich das Duo bei der gemeinsamen Arbeit im Hamburg Dungeon, einem touristischen Gruselkabinett, wo sie einst gegen Honorar Auswärtige erschreckten. Heute kann man ihre musikalischen Dienste für Ruderclubfeiern oder U-Boot-Taufen buchen. Heiner belegt mir ganz frisch ein Fischbrötchen und gibt mir dann noch einen Korn aus. Prost!