Frei erfundene Geschichten zu zufällig gefundenen Fotografien sind ja auch so ein literarischer Gemeinplatz. Unzählige Schriftsteller haben sich daran versucht, aber niemand will das lesen.
Und doch juckt es in meinen Fingern, als ich die Fotografie von dem alten Paar und ihrem Hund entdecke. Leicht gebückt stehen sie nah beieinander, sie (mit Faltenrock) legt ihm (im Altemännerpullover) den Arm sanft um die Schulter, zu ihren Füßen ein treudoof blickender Golden Retriever. Alle lächeln, das Paar weil es fotografiert wird, der Golden Retriever, weil es sein natürlicher Gesichtsausdruck ist. Im Garten wächst gemeiner Rhabarber und stehen mehrere aus Holz geschnitzte Skulpturen.
Was mag ihre Geschichte wohl sein? Und vor allem – das Traurige daran ist die Metaebene – warum steht dieses gerahmte Bild so verloren in einem Hauseingang auf St. Pauli?
Ich weiß es nicht. Und werde es wohl auch nie erfahren.
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war etwas Übergroß. Aber nun, da das Laub längst von den Bäumen gefallen und die Temperaturen sich im einstelligen Bereich bewegen, da läuft und läuft und läuft er: immer noch barfuß und mit nacktem Oberkörper.
Keine Waffen, keine Mobiltelefone, keine Kartenzahlungen, kein Speiseeis und keine Fotos. Stattdessen die Türklingel mit der Aufschrift „Bar“ betätigen, darunter zur Bekräftigung ein Schild mit der Aufschrift „HIDE YOUR PHONE/please/ENJOY THE DRINK“. Berlin-Mitte, es ist 19.30 Uhr, draußen ist es noch hell, ich klingle und warte kurz, dann öffnet sich die Tür, „Eine Person?“, „Ja, eine Person“. Allein sind Bars am besten und ich mag es, wenn es draußen noch hell ist, und man in die Bar hineingeht, wie in eine andere Welt. Die Begrüßung ist professionell, freundlich, distanziert; ich werde hineingebeten, lege meine Jacke an der Garderobe ab und nehme den mir zugewiesenen Platz ein.
Die Inneneinrichtung ist dunkel, stilvoll, modern und minimalistisch. An der Wand wenige Bilder, alles geschmackvoll. Ich füge mich dem Smartphone- und Fotografierverbot in der Bar, weil der Gastgeber das so will, obschon ich es für antiquiert halte. Aber warum nicht einmal für zwei Stunden alle Verbindungen zur Außenwelt einfach kappen, wann macht man das schon mal, schließlich zahlen andere mittlerweile für einen Digitaldetoxurlaub horrende Summen? Mindestens genau so antiquiert ist das Konzept Speakeasy und dessen ganzes Insidergetue, das Geklingel und Gewarte vor der Tür und so weiter, schließlich sind die Zeiten der Prohibition längst vorbei. Andererseits hat es freilich seinen Charme, in eine sehr kleine Bar keine Horden pubcrawlender Touristen und Junggesellenabschiede hineinzubitten.
Um den Tresen verteilt befinden sich 14 Sitze. Meiner befindet sich auf der Seite des Bartenders, dessen Arbeitsbereich sich schräg-rechts vor mir befindet. Eine etwas ungewohnte Position, fast wie auf dem Beifahrersitz, dafür aber mit perfektem Überblick. Hinter mir an der Wand eine goldene Kettensäge, toll. Es stehen bereit: Ein Glas Wasser und das Menü. Im Menü eine Auswahl von ca. 30 Cocktails, zumeist Klassiker und sinnvolle Variationen, naturgemäß kein Quatsch, schließlich zählt man zu dem 50 besten Bars der Welt, so sagt es zumindest eine immer wieder gern zitierte Liste, deren Herausgeber meinen, dieses Urteil fällen zu können. Die Spirituosen befinden sich in neutralen Flaschen, man muss hier nicht zeigen, was man hat, und lässt sich nicht von der Industrie für das Ausschenken bestimmter Marken kaufen. Aus den Lautsprechern säuselt sanft Chet Baker. Perfekte Barmusik, ich frage mich, wie man in Bars überhaupt etwas anderes spielen kann als Chet Baker.
Früh da sein ist immer gut, den Platz besetzen, das Personal ist noch frisch und gutgelaunt oder sollte es zumindest sein. Außer mir sind lediglich fünf weitere Gäste anwesend und es soll noch eine Weile dauern, bis die nächsten vom blau blinkenden Lichtsignal angekündigt werden. Auf den Plätzen neben mir ein frisch zusammengetindertes Paar, im Umgang miteinander genau so verunsichert wie mit der Auswahl der Getränke. Sie hatte gerade Grippe, er reist beruflich viel, beide wohnen in WGs und so weiter. Er war beim letzten Besuch dieser Bar mit der Getränkeauswahl KOMPLETT überfordert und hat dann einfach irgendwas bestellt, in der Hoffnung, es wird schon gut sein, sie mag was mit Rosmarin, Rum mag sie nicht, dann schon lieber Gin, da schmecke man noch die anderen Zutaten, so sie.
Die Personal-Gast-Interaktion beschränkt sich auf das Reichen des Menüs und das gelegentliche Nachschenken des Wassers. Sonst nichts. Nicht dass ich mit mir persönlich unbekannten Bartendern gern über das Leben im Allgemeinen oder gar im Besonderen plaudern würde, aber der persönliche Umgang hier scheint mir doch arg reduziert: Das wortlose Herüberschieben der Karte bei der Bestellung, keine Frage nach geschmacklichen Vorlieben und eine darauf basierende Empfehlung, keine Frage ob alles okay ist oder man zufrieden war, nichts. Rein gar nichts. Lieber verbringen die drei diensthabenden Bartender ihre Zeit damit, im winzigen Hinterzimmer auf ihren Smartphones herumzutippen, hinter der Bar stehend einen Apfel zu essen und am Tresen sitzend eine Zigarette zu rauchen. Mittlerweile habe ich die eine oder andere erstklassige Bar besucht, hatte jedoch noch nie so sehr das Gefühl, als Gast so egal zu sein.
Die Drinks – ich hatte einen French 75 und einen Corpse Reviver No. 2 – sind über jeden Zweifel erhaben. Natürlich kann dies nur eine Stichtagsbetrachtung sein, sicher hat das Bucks and Brecks auch bessere Tage. Aber in einer Bar der Kategorie Drinkskostenhierfünfzehneuroundwirgehörenzudenbestenaufderwelt kauft man als Gast eben nicht nur einen Drink, den man sich mit etwas Mühewaltung auch in der Homebar mixen könnte, sondern ein Erlebnis.
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