Ohne Titel

Wie jeden Tag saß das Mädchen mit dem Akkordeon vor dem Supermarkt auf dem tristen Marktplatz und spielte traurige Weisen. Die meisten Menschen beachten sie gar nicht und ziehen teilnahmslos vorbei, wie auch ich das meistens tue. Nur heute, als ich an der Bushaltestelle wartete, schenkte ich ihr einen flüchtigen Blick und war dankbar, dass sie wenigstens nicht „Besame mucho“ spielte. Gleichzeitig bemerkte ich im Augenwinkel eine Frau, die Andrea G., einer Mitschülerin aus Grundschulzeiten, die mir vor etwa einem Vierteljahrhundert mit voller Wucht und Absicht, aber ohne Grund, gegen das Schienbein trat, zum Verwechseln ähnelte.

Ob des Anblicks setzte unerwartet eine Art Phantomschmerz in meinem Schienbein ein. Unberechtigt war dies, denn der Knochen meines Unterschenkels war sowohl noch vorhanden als auch vollkommen intakt. Dennoch betrat ich grundlos leicht humpelnd den Linienbus. Neben mir saß ein älteres Ehepaar, das mir jedoch noch etwas zu jung für die Worte, welche ich mitzuhören nicht beabsichtigt hatte, erschien. Etwas zu laut sagte die Frau: „Helmut, ich bin froh, dass du deinen Geist wiederhast und wieder mit mehr Mut in den Tag startest.“ Helmut indes blickte ins Leere und machte dazu einen wenig geistreichen Eindruck.

Mir blieb nichts weiter, als meinen Kopfhörer aufzusetzen und zur Zerstreuung Bachs Goldberg-Variationen einzuschalten.

Ein Tag im Leben

Dieser Tag konnte kein guter werden. Bereits die morgentliche Durchsicht des Pressespiegels bestätigte diesen Anfangsverdacht: Eine umstrittene Schweizer Sterbehilfeorganisation unterstützt Schwerkranke mit Hilfe des Luftballongases Helium beim Ausscheiden aus dem Leben. Abgesehen davon, dass der Freitod durch vermutlich qualvolles Ersticken herbeigeführt wird, konterkarieren mit Donald-Duck-Stimme gesprochene letzte Worte den durch diese Maßnahme eigentlich gewollten würdevollen Abgang, dachte ich.

Bei meinem späteren Cafébesuch musste ich feststellen, dass offensichtlich ein Chaosforscher vor mir die Tageszeitung gelesen und mit dieser umfangreiche Testreihen durchgeführt hat. Als es mir gelang, die Seiten des Druckerzeugnisses in eine akzeptable Reihenfolge zu bringen, war mein Kaffee bereits kalt.

Am Abend besuchte ich eine Lesung in einem fensterlosen Raum. Der erste kleine Glücksmoment des Tages trat ein, als der lautstarke monotone Klang der Lüftung unerwartet verstummte. Halb froh über das ausbleibende Hintergrundgeräusch, halb erneut an Dignitas denkend, lauschte ich den wunderbar-skurrilen Auszügen aus David Gieselmanns Poptickerlexikon.

Versöhnlich stimmten mich die frische Abendluft und ein Kuhbonbon in der Jackentasche.