Fernsehschirm

Konnte ich mich vor zwei Jahren noch dem gemeinschaftlichen Betrachten von fußballerischen Großereignissen erfolgreich entziehen, so habe ich in diesem Jahr den Widerstand gegen das so beliebte öffentliche Anschauen – zumindest für einige wenige Spiele – aufgegeben.

In der prallen Mittagssonne wurden im Innenhof des Hotels Michelberger in Berlin-Friedrichshain Bier und Bratwürste gereicht. Das machte das Gekicke von Serbien gegen Deutschland halbwegs erträglich. Junge Frauen, die sich womöglich aus kalorischen Gründen von Bratwurst und Bier fernhielten, strickten in einem Tempo, das es fraglich erscheinen ließ, ob die selbstgefertigten Schals noch bis zum kommenden Winter fertig gestellt werden könnten. Immer häufiger sieht man jetzt wieder junge Frauen beim Stricken. Sie alle tun dies vermutlich nicht, um ihre Erzeugnisse auf einem Internetmarktplatz für Unikate gewerbsmäßig zu veräußern oder um ihren noch längst nicht vorhandenen Enkelkindern einen vermeintlichen Gefallen zu tun, sondern sie benötigen etwas Zerstreuung: Von 90 Minuten, die ein Fußballspiel gewöhnlich dauert, passiert in 85 Minten zumeist nichts wirklich Spannendes.

Da wäre es nicht weiter tragisch gewesen, wenn der Betreiber den Schirm noch etwas weiter vor den Fernseher gehängt hätte. Man verpasst ja doch nichts.

Den einzigen Ansatz einer Leidenschaft, die das andauernde Fußballturnier bei mir ausgelöst hat, ist das Sammeln von Team-Stickern, die sich in Duplos befinden. Mir fehlen übrigens noch die Nummern 5, 10, 12, 17, 19, 22, 24, 25, 31, 33, 38 und 42.

Tagebuch eines EM-Verweigerers Teil 5: Schostakowitsch und Schluss

Eigentlich ist dies ein Beitrag für die Rubrik Leserbriefe. Da ich aber langsam beginne, mich an diese kleine Fußballserie zu gewöhnen, erscheint dieser zum Ausklang der glücklicherweise heute endenden Europameisterschaft in dieser Reihe. Das Beste am Fußball ist, dass es – wenn man von Nachspielzeiten einmal absieht – keine Zugaben gibt.

Kürzlich frug mich eine unbekannte Kommentatorin, wie mein Verhältnis zu Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) sei. Der russische Komponist war nämlich, wie die Archive der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und der Süddeutschen Zeitung belegen, ein großer Fußballfan. Die NZZ schreibt dazu in ihrer Ausgabe vom 23. September 2006:

Zwischen intellektueller Überlastung und den ständigen politischen Zwängen fand Schostakowitsch kaum Möglichkeiten der seelischen Entspannung. Ohne Fussball hätte er dieses Leben nicht ausgehalten, meinte seine Biografin Sofia Hentowa.

Die unbekannte Leserbriefschreiberin schreibt weiter, dass sie derzeit fasziniert von Schostakowitschs 11. Sinfonie sei, und fragt nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Rhythmik und Fußballtaktik. In Ermangelung einer vorliegenden Aufnahme dieses Werkes weiß leider auch ich darauf keine erschöpfende Antwort zu geben. Wohl aber befindet sich in meiner bescheidenen Musiksammlung eine Gesamtaufnahme Schostakowitschs Streichquartette – die noch immer zeitgemäße und erfrischende Aufnahme des Brodsky Quartets aus dem Jahre 1989. Keine Mühen habe ich gescheut und für meine Leserschaft diese Aufnahme – insbesondere vor dem Hintergrund meines neu erworbenen Wissens um die Fußballliebe des Komponisten – einmal angehört. Das Ergebnis wird Sie möglicherweise so sehr überraschen wie es auch mich überrascht: man kann nicht hören, dass Schostakowitsch ein Fußballnarr war.

Das ist gut, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist es für einen Geistesmenschen unabdingbar, einen intellektuellen Ausgleich zu finden. Tage und Nächte sitzt der Komponist in seiner dunklen Kammer und komponiert Sinfonien, Konzerte, Suiten und Kammermusiken vor sich hin. Das ist anstrengend und irgendwie muss die ganze Anspannung, die sich dabei aufbaut, heraus aus dem komponierenden Komponisten. Da ist es immer noch besser, am Rande eines Fußballfeldes die aufgestauten Aggressionen abzubauen, indem man die eigene Mannschaft anfeuert und den Schiedsrichter beschimpft, als gelegentlich einen Amoklauf zu begehen oder sich die Venen mit Heroin vollzupumpen. Selbst in meinem Freundeskreis finden sich zahlreiche Menschen, die sich hin und wieder mit Begeisterung Fußballspiele anschauen. Auch wenn ich selbst eine Abneigung gegen diese Sportart hege, so bin ich tolerant genug, ihnen diese Vorliebe als Ventil für die Belastungen des Alltags zuzubilligen. Schließlich handelt es sich bei dieser Neigung lediglich um einen kleinen Aspekt ihrer Persönlichkeit. Dieser zeigt ganz wunderbar, dass niemand vollkommen ist – nicht einmal meine eignen Freunde. Zweitens ist es doch beruhigend zu erkennen, dass es zwischen einer einzelnen Charaktereigenschaft und dem Menschen als Ganzes keinen wirklichen Zusammenhang gibt. So kann man einerseits fußballverrückt und gleichzeitig ein talentierter Komponist sein, wie dies bei Schostakowitsch der Fall war. Auch gibt es bekannte Fälle von Fußballverrückten, die gleichzeitig ganz miserable Musiker sind, wie es die Band Sportfreunde Stiller mit ihrer Fußballhymne 54, 74, 90, 2010, aber auch viele andere zuvor eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben.

Mit der versöhnlichen Erkenntnis, dass auch Fußballfans gute Menschen sein können, will ich dieses kleine Tagebuch beschließen – morgen ist zum Glück alles vorbei.

Tagebuch eines EM-Verweigerers Teil 4: Man sieht sich

Gestern erwarb ich beim Zeitungshändler meines Vertrauens eine Sonntagszeitung.  Nachdem ich mein passend abgezahltes Münzgeld hinüberreichte, verabschiedete mich dieser mit den Worten „Wir sehen uns Mittwoch.“ Mittwoch?, dachte ich. Was ist bloß Mittwoch los? Trotz größter Anstrengungen konnte ich mich nicht daran erinnern, ein Rendezvous mit dem Zeitungshändler zu haben. Tiefe Falten schlugen sich als Ausdruck meines Grübelns in meinem Gesichte nieder;  ich zögerte. Lag etwa eine Verwechslung vor?

Ratlos schaute ich meinen Zeitungshändler an – ein junger Mann türkischer Abstammung. „Na Fußball, Mann“, sagte er – nun ebenso ratlos wie ich – und schüttelte verwundert sein Haupt. Ich brachte nur ein kurzes „Ah“ hervor, während sich hinter mir bereits eine Warteschlange von Kicker-Käufern bildete, und suchte das Weite.

Weder gedenke ich am kommenden Mittwoch Fußball zu schauen, noch gedenke ich Fußball zu spielen. Genausowenig wie ich Papst bin, bin ich ein Mitglied der deutschen Fußballnationalmannschaft. Möge der Bessere gewinnen.

Tagebuch eines EM-Verweigerers Teil 3: Das Leiden geht weiter

Das Leben als EM-Verweigerer wird von Tag zu Tag schwieriger. Nicht, dass in mir plötzlich ein unerklärlicher Drang aufkeimte, plötzlich einem Rudelglotzen beizuwohnen. Vielmehr belastet mich die unaufhaltsam scheinende Rundlederbegeisterung angesichts der wider Erwarten überstandenen Vorrunde der Deutschen Nationalmannschaft.

Derweil steigen die Benzinpreise ins Unermessliche. Die überall ausverkauften Fahnen werfen ihre Schatten: Der durch sie erhöhte Luftwiderstand führt schon seit Wochen dazu, dass der Spritverbrauch eines durchschnittlichen Kleinwagens sich beständig dem eines amerikanischen Straßenkreuzers annähert. Dies treibt die Nachfrage in die Höhe. Der ADAC jammert, Greenpeace schimpft und die Vertriebsvorstände der Mineralölkonzerne taumeln vor Glück. Nicht mit Blick auf das Gekicke, sondern beim freudigen Blick auf ihre Absatzzahlen vermögen sie nur noch mit leuchteten Augen vom sogenannten „EM-Effekt“ zu sprechen.

Nachdem nun auch der letzte Einzelhändler vom Fußballfieber gepackt während der Spielzeiten lieber sein Geschäft schließt, anstatt die ohnehin kränkelnde Wirtschaft ankurbeln zu lassen, und ich mittlerweile auch schon meinen längst überfälligen Friseurbesuch absolviert habe, werde ich mich während des nächsten Spiels „unserer“ Nationalmannschaft den dann auslaufenden Ebay-Auktionen zuwenden. Dort lässt sich mangels Nachfrage sicher das eine oder andere Schnäppchen schlagen.