Der Song aus einem Disney-Märchen, der Pianist voller Drogen. Was bleibt, ist der Moment. Keine Prinzessin reitet vorbei, um uns zu erlösen. Nicht einmal ein Prinz.
In der CD-Abteilung einer großen Elektromarktkette; die bestsortierte Jazzabteilung der Stadt: Eine noch recht jugendlich wirkende Mutter hält das Cover des 1959 erschienenen Albums „Chet“ in der Hand. „Einmal diese Lippen küssen“, sagt sie halb träumend zu ihrer schon recht erwachsen wirkenden Tochter. Ich habe ein späteres Bild des großen Trompeters vor Augen: das eines vom Leben gezeichneten alten Mannes; keine Zähne im Mund und tiefe Falten im Gesicht, seine Bewegungen sind langsam und er ist vom Heroin gezeichnet. Ich lasse allerdings Mutter und Tochter in ihren Illusionen, denn wer küsst schon gern einen zahnlosen Junkie?
1959 allerdings sah Chet Baker tatsächlich noch aus wie ein James Dean mit Trompete. Niemand anders hat dieses Instrument so gefühlvoll gespielt, so lässig. Er war wahrlich kein Sänger und dennoch hat seine Art zu singen den Jazz geprägt. Er war kein großer Komponist, aber ein beeindruckender Interpret. Und sicher hat seinem Aufstieg nicht geschadet, dass er so fotogen war wie kein ein anderer Jazzmusiker.
Ein paar Jahre später schon begann Chet Bakers rasanter Fall: bei einer Schlägerei verlor er seine Zähne, der Drogenkonsum hinterließ seine Spuren. Dennoch war er musikalisch bis kurz vor seinem Tod zu musikalischen Glanzleistungen fähig — auch wenn er manchmal etwas fahrig wirkte, Einsätze verpasste oder Texte vergaß. In seinen letzten Jahren entstanden beeindruckende Aufnahmen wie „Live in Tokyo“ (1987), aus der obigen Version von „My Funny Valentine“ stammt; aber auch die Zusammenarbeit mit dem belglischen Gitarristen Philip Catherine oder die nur zwei Wochen vor seinem Tod enstandenen Konzertmitschnitte gemeinsam mit der NDR-Bigband verdienen Erwähnung. Am 13. Mai 1988 fiel er unter ungeklärten Umständen aus einem Amsterdamer Hotelfenster und war sofort tot. Bruce Webers wunderbare Filmbiografie „Let’s Get Lost“ (1988) zeigt einfühlsam alle Höhen und Tiefen aus Chet Bakers bewegtem Leben. Ein tragischer Held — für immer unvergessen.
Chet Baker höre in glücklichen Momenten; Chet Baker höre ich in traurigen Momenten. Chet Baker kann man in jeder Lebenslage hören. Sogar eine Weihnachtsplatte gibt es von ihm, die einen vergessen lässt, dass „Last Christmas“ je komponiert wurde.
Ich bin 14 Jahre alt und leihe in der öffentlichen Bücherei meiner heimatlichen Kleinstadt „Bright Size Life“ aus. Dies ist meine erste bewusste Berührung mit dem Jazz. Ich bin beim Hören erstaunt, verwundert und befremdet — und bringe den Tonträger eine Woche später in die Bibliothek meines Vertrauens zurück. Jazz spielt danach für mich einige Jahre keine große Rolle mehr. Irgendwann entdecke ich das Frühwerk des Gitarristen Pat Metheny und seiner grandiosen Mitstreiter Jaco Pastorius (Bass) und Bob Moses (Schlagzeug) wieder und weiß es sofort zu schätzen.
Sechs Jahre später, 1996: Ich sitze mit H. im alten VW Passat Kombi ihrer Eltern und wir fahren durch die Großstadtnacht. Aus den Lautsprechern schallt Pat Metheny, als wir plötzlich eine Taube anfahren. H. hat ein großes Herz — für Tiere noch mehr als für mich. Deshalb suchen wir mit dem verletzten Vogel die Notaufnahme des Tierschutzvereins auf. Die Taube wird gerettet.
„Bright Size Life“ empfinde ich heute eher als melodiös und ruhig; dennoch ist die Platte weit entfernt davon, im Plattenladen unter „Fahrstuhljazz“ einsortiert zu werden. Immer wieder beeindruckt mich Jaco Pastorius fretless Bassspiel; so einfühlsam hat man ihn in seinen wilderen Punk-Jazz-Jahren nach dieser Aufnahme Ende 1975 nur noch selten gehört.
H. habe ich längst aus den Augen verloren — aber häufig, wenn ich Pat Metheny höre, erinnere ich mich an sie und denke an angefahrene Vögel Tauben auf dem Dach.
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