Café unter den Linden und Wilde Maus

Kakao mit Rum
Warum heißer Kakao und Rum neuerdings separat serviert werden, ist dem Autor ein Rätsel

Wer heute das erste Mal einen Fuß in die Freie und Hansestadt Hamburg setzt, der fühlt sich gleich bestätigt: Es regnet in Strömen. Und weil man bei diesem Wetter gar nicht anders kann, als einen heißen Kakao mit Rum zu bestellen, bestelle ich einen heißen Kakao mit Rum. Seit nun 24 Jahren gehe ich ins Café unter den Linden und zum ersten Mal werde ich von einer Bedienung gesiezt. Zwar bin ich älter geworden, aber noch nicht senil. Soweit ich mich erinnern kann, wurde im Café unter den Linden überhaupt noch nie jemand gesiezt.

Der Niedergang des Cafés begann vor etwa zehn Jahren. Zuvor konnte man sich stets darauf verlassen, von der Bedienung zumindest nachlässig behandelt zu werden. Irgendwann wurde eine den Gästen freundlich zugewandte Balletttänzerin eingestellt. Ab diesem Zeitpunkt wurden meine Besuche seltener. Aber immerhin kam die Balletttänzerin nicht auf die Idee, mich oder irgendeinen anderen der Gäste zu siezen: Nicht den Schnauzbart, der auf dem Uni-Campus antiquarische Bücher verhökert; den Redseligen, der immer am Personaltisch sitzt, obwohl er dort nicht hingehört; den ehemaligen Terroristen, der heute ein mexikanisches Restaurant betreibt; den Heini, der immer die Süddeutsche Zeitung bunkert, während er die Konkret auswendig lernt, und auch keinen der vermutlich auch heute noch immer fast täglich einkehrenden Schachspieler. Bislang konnte man sich immer darauf verlassen, dass unter keinen Umständen gesiezt wird, denn warum sollte es?

Ein wenig aus der Fassung gebracht schlürfe ich an meinem heißen Kakao mit Rum, und um mich ein wenig vom Siezgate abzulenken, belausche ich das Gespräch am Nachbartisch, wie ich es früher immer gern zu tun pflegte. Nebenan sitzen zwei mittelalte weiße Frauen, vermutlich machen sie irgendwas mit Soziologie, aber auf jeden Fall scheint es bei dem, was sie umtreibt, um die Verfassung einer akademischen Abhandlung zu gehen. A schriebe so, als benötigte sie kein Lektorat, so ihr Verlag. B durchschaut naturgemäß sofort, dass sich der vermutlich finanziell nicht sonderlich gut aufgestellte Wissenschaftsverlag mit diesem Lob vor dem Aufwand der Qualitätssicherung des Textes zu drücken versucht.

Und so geht es eine Weile hin und her etc., während A irgendwann bekennt „Mir fehlt ein Masternarrativ: Ein sauberes soziales Problem“ und B sofort begeistert zustimmt „Ja ja, man will die Checker willkommen heißen.“ A sagt, sie sei immer zu verkopft, was ich nach etwa fünf Minuten des flüchtigen Zuhörens – mich beschäftigt gedanklich noch immer das Siezgate – durchaus bestätigen würde. „Ich habe sie immer flexible Mittelschicht genannt“, so A. Und B fragt: „Was ist denn die eine Sache, wenn Du verdichten willst?“ A: „Man weiß nicht so viel.“ B: „Wenn man es weiß, dann denkt man so und so.“

Mir wird das Gespräch zunehmend egaler, aber ich bin der Meinung, dass A für ihre Publikation ganz dringend einen Lektor benötigt, weil ihre Gedanken wirr und B ihr offenbar keine allzu gute Hilfe zu sein scheint. Außerdem bin ich kurz froh, irgendwas mit Werbung zu machen, und mir ist schon fast egal, ob ich gesiezt werde oder auch nicht. Gern würde ich jetzt einen zweiten heißen Kakao mit Rum bestellen, aber die Uhr verrät mir, dass es an der Zeit ist aufzubrechen, obwohl es draußen noch immer regnet und ich dem Gespräch am Nebentisch noch stundenlang hätte zuhören können, obschon es mich im Kern nicht sonderlich interessiert.

Niemand kann beim traurig gucken so lustig sein wie Josef Hader

Ich mache mich also auf den Weg ins nahegelegene Studio-Kino, wo Josef Hader persönlich seinen neuen Kinofilm Wilde Maus vorstellt. Er spricht bereits vor der Filmvorführung, weil er später noch in einem anderen Hamburger Kino dieselben Antworten auf dieselben Fragen geben wird wie hier, aber das ist egal. Wie immer sagt er allerlei lustige Dinge, was alle von ihm erwarten, und er enttäuscht die Erwartungen niemals. „Heute ist Weltfrauentag. Aber am Film kann man ja nun nichts mehr ändern“, so er auf die Frage zu seinem Regiedebüt, die eigentlich schon gar nicht mehr so wichtig ist. In seinem nächsten Film würde er gern das Arschloch spielen. „Arschloch und Regie, das ist eine gute Kombination.“ Der Film ist lustig und traurig und sehenswert. Gehen Sie doch mal wieder ins Kino. Man sollte sowieso viel häufiger ins Kino gehen.

Myll, 14. August 2012 – Teil 2

1802. Der Freund und ich beschließen, uns heute Abend der Spielsucht hinzugeben. Wir erwerben jeweils fünf Rubbellose. Ich gewinne zwei Mal einen Euro, den ich wiederum in neue Rubbellose investiere. Pech im Spiel, Pech in der Liebe.

1852. Wir erhöhen die Dosis und betreten ein Automatencasino. „Guten Tag, wir möchten gerne spielsüchtig werden“, und wechseln Scheine in Münzgeld. Außer uns sind ein paar knapp Erwachsene Jugendliche mit Migrationshintergrund und Baseballmützen anwesend. Sie sind Profis und spielen an mehreren Automaten gleichzeitig. Wir stellen uns an einen der für uns nicht erkennbar belegten Automaten. „Weg da!“ und „Die sind neu“, nimmt uns die Spielhallenaufsicht in Schutz. Während ich über das Ziel des Spiels grüble, erinnere ich mich an meine Großmutter, die auf Butterfahrtsdampfern regelmäßig Automaten plünderte. Ich kapiere nichts und drücke wahllos auf irgendwelche Tasten, bis mein gesamter Münzgeldbestand endlich versenkt ist. Keine Ahnung, wie man davon süchtig werden kann. Morgen wird nicht wie heute sein.

1927. Zum Glück noch ein paar Münzen für ein Wegbier übrig. Ist kühl, schmeckt gut. „Man sagt ja heute Fußpils. Haha.“

2043. Jetzt doch das richtige Casino, Reperbahn. Einen Euro Eintritt zahlen, Ausweis vorzeigen, nicht in der Sperrdatei stehen, reinkommen. Freund wechelt 50 Euro in Jetons. Black Jack oder 17+4, wie man hierzulande gern sagt. Nach einem sogenannten System zählt der Freund Karten, erhöht seinen Einsatz, nimmt eine weitere Karte etc. In seiner Pinkelpause vertrete ich ihn kurz am Tisch, erhalte das Kapital. Gar nicht übel. Freund gewinnt nach Abzug von zwei überteuerten Weizenbieren und Trinkgeld für die Croupieuse 50 Euro. Ich bin begeistert und möchte mich beim Rausgehen auf die Sperrdatei setzen lassen. Der Mann hinter der Theke warnt mich, das gelte für 101 Jahre und es gebe kein Zurück. Dann eben nicht.

2300. Kino: Prometheus. Trotz Gin Tonic unerträglich, weil zu viele Aliens und deren Gedärm. Dietmar Dath hat das Machwerk letzte Woche in der FAZ gelobt, aber das heißt ja nichts. Vermutlich habe ich den Subtext nicht erkannt. Vielleicht war der Film aber auch einfach nur eklig.

0137 Im Taxi nicht angeschnallt.

Halt auf freier Strecke

Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.
(Thomas Bernhard)

Wo früher das Lieblingskino meiner Jugend stand, befinden sich heute die zumeist ungenutzten Gesellschaftsräume eines Hotels. Statt des Verzehrkinos mit kleinen Tischen und Klingeln, mit denen man während der Vorstellung die Bedienung zu sich bitten konnte, um Eiskonfekt und Bier zu bestellen, und der Bar, an der man zigaretterauchend einen Film genießen konnte, gibt es an dieser Stelle nur noch Schnaps und Butterkuchen zu traurigen Anlässen: Beerdigungen und Hochzeiten. Von den ursprünglich drei Kinos in der Kleinstadt hat nur eines überlebt; das Siechtum dominiert die Vitalität jedoch merklich. Einmal wöchentlich gibt es „Kino für Kenner“, zu diesem Anlass werden einmal im Monat Qualitätsfilme gezeigt.

Kinokarte
Kinokarte

Ich investiere weniger als die Hälfte des großstadtüblichen Eintrittspreises, um mir Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“ anzusehen, den mir ein Freund bereits vor über vier Monaten empfohlen hat, als der Film in der Hauptstadt anlief. Damals, mit ihr, war ich oft im Kino; im letzten Jahr nicht ein einziges Mal, denke ich, während ein Werbefilm für die örtliche Autowaschstraße präsentiert wird. Dann wird es hell im Saal, die Eisverkäuferin kommt und es beginnt der Vorspann. Plötzlich merke ich, dass ich im falschen Film bin. Dies ist zwar ein durchaus vertrautes Gefühl, aber eher metaphorisch. Irgendwie hatte ich mir nicht vorstellen können, dass hier einen zweiten, noch kleineren Kinosaal für die Qualitätsfilme gibt. Vor lauter Schreck gieße ich etwas Bier über meinen Schal und meine Jacke als ich die Treppe hinauf eile. Kleines Kino, das.

Ich habe Bier, Eiskonfekt und Taschentücher, aber niemanden zum Händehalten. Sei’s drum. Der Film beginnt mit einer schrecklichen Diagnose (hier im Trailer zu sehen): Frank, Ehemann und Vater von zwei Kindern, hat einen Gehirntumor. Er wird sterben, wie naturgemäß alle Menschen sterben werden. Nur wird ihm eine Lebenserwartung von nur noch wenigen Monaten prognostiziert. Alles wird ungeschönt gezeigt: wie er es seinen Kindern sagt, der letzte Sex und die Inkontinenzwindel. Während Frank körperlich und geistig zunehmend verfällt, sind Familie und Freunde damit häufig überfordert. Traurige Momente überwiegen und es ist gut, dass ich Taschentücher eingepackt habe, denn natürlich muss ich weinen. Aber der Film hat auch immer wieder absurd-komische Szenen. Es ist ein guter Film, der zeigt, dass das Sterben gar nicht so schlimm sein muss, wenn jemand für einen da ist.

Nach dem Kino gehe ich in die Bar. Ich sitze allein an der Theke und trinke ein Glas Lebenswasser.

Mafiagruß

„Das ist eine sizilianische Botschaft. Sie bedeutet:
Luca Brasi schläft jetzt bei den Fischen.“
(Der Pate)

Gekitzelt von den ersten Sonnenstrahlen erwacht man, lange bevor der Wecker ertönt. Neben einem im Bett liegt etwas Totes und man denkt sofort an die Mafia. Es ist nur eine Fliege. Sodann ekelt man sich vor dem Insekt und grämt sich ob der Erkenntnis, dass die eigene Existenz für einen Pferdekopf nicht bedeutend genug sein könnte.