Myll, 16. August 2012

0927. Wie jeden Morgen kommt das junge Mädchen aus dem ehemals sogenannten Ostblock ins Café und bestellt einen Latte zum Mitnehmen. Sie ist Model und sehr dünn. Während der Kaffee zubereitet wird, nimmt sie Platz. Vielleicht ist sie geschwächt. Möglicherweise sind dies die einzigen Kalorien, die sie heute sich nehmen wird. Draußen regnet es in Strömen, immerhin hat sie die Kraft, einen Regenschirm zu halten. Sie ist zäh. Trotzdem möchte ich sie füttern.

0957. Zum Frühstück 100 Seiten Sibylle Berg, „Vielen Dank für das Leben“, stimmt mich naturgemäß nicht fröhlicher, ist aber trotzdem gut. Frau Berg kann schreiben. (Vermisse Y. ein bißchen, mit ihr konnte man über Bücher sprechen, sie hat immer die richtigen gelesen. TB lag stets auf ihrem Nachttisch etc.)

2017. Podcast mit den Jungs. Sie fragen mich, was ich im Gesicht habe. Vollbärte scheint man in Hamburg nicht zu tragen, dafür hat man hier offenbar neuerdings Kinder.

Laufmaschinen

Berlin Fashion Week Catwalk

Mechanisch stakseln sie über den Laufsteg, starr ihr Blick. „Du darfst auf keinen Fall lächeln“, hat man ihnen gesagt, und eisern halten sie sich daran. Lange Schritte, konzentriert setzen sie einen Fuß vor den anderen, während sie mit den Augen einen imaginären Punkt am Ende des Raumes fixieren. Manchmal, wenn man ganz aufmerksam ist, kann man ein kleines Wanken beobachten, wenn sie in ihren schlecht passenden und viel zu hohen Schuhen hin und her rutschen. Für den Bruchteil einer Sekunden haben die Laufmaschinen dann etwas Menschliches.

Aus den Lautsprechern dröhnt elektronische Musik, die wummernden Bässe drohen die viel zu dünnen Mädchen wegzufegen. Kleider werfen keine Falten und Marcel Duchamps Flaschentrockner scheint das Idealbild des weiblichen Modeweltkörpers zu sein: ein Gerippe mit vorstehenden Knochen. Eine naturgegebene knabenhafte Frauenbrust ist keine Tragödie, die mit Silikonkissen bekämpft werden muss – aber eben auch kein Schönheitsideal, das mittels Wattediät heruntergehungert werden sollte. Ob manch ausgemergelter Erscheinung muss ich meinen Blick vom Laufsteg abwenden. Die Frauen seien für Models normal dünn, so meine fachkundige Begleitung. Die Normen müssen sich ändern, denke ich, und möchte die Models füttern. In der kommenden Saison sehen wir auf dem Laufsteg Frauen mit Hüften und Brüsten.

Berlin Fashion Week

One week he’s in polka-dots, the next week he’s in stripes
‚Cause he’s a dedicated follower of fashion.
(The Kinks, „Dedicated Follower of Fashion“)

Man sieht sie jetzt überall in Berlin: Ältere Herren in Trekkingsandalen und Tennissocken. Es muss wohl wieder Fashion Week in Berlin sein.

Shows, Messe, Partys, Küsschen links, Küsschen rechts – das Modebusiness kann schon anstrengend sein. Besonders bei diesen außergewöhnlich sommerlichen Temperaturen. Zu gern würde man das verschwitzte Blüschen gegen den neuesten Hauch von Nichts auf dem Catwalk eintauschen, aber für’s Umziehen bleibt keine Zeit, denn das nächste Event lockt.

Zusammen mit all den anderen ModebloggerInnen stehe ich im Store eines spanischen Schuhherstellers, nippe abwechselnd an erfrischender Mandelmilch und Cava mit Orangenlikör und begegne Nils Bokelberg. Dieser erschien mir bislang völlig unverdächtig, irgendwelchen Moden hinterherzurennen. Trotz aller berechtigten Warnungen der Band Tocotronic hat er sich jedoch offensichtlich dem Trend zum Selbermachen angeschlossen: Nicht ohne Stolz präsentiert der Nilzenburger mir die aktuelle Kollektion seiner selbstgenähten Täschchen – ein sehr kleines Täschchen für seine Panini-Sammelbilder, ein weiteres kleines Täschchen für sein mobiles Telefon und ein größeres Umhängetäschchen im aktuellen Fußball-Look, welches Platz für die beiden kleineren Täschchen bietet.

Das gefällt mir. Die neuen Schuhe von Camper sind aber auch nicht schlecht.

 

Laufvögel im Schanzenviertel

An Strauße dachte ich immer, wenn ich eine von ihnen sah. Mit ihren langen Beinen und dem stets etwas dümmlichen Gesichtsausdruck war die Ähnlichkeit mit den flugunfähigen Vogeltieren nicht zu übersehen. Sie hatten es nicht weit aus ihren Vordörfern in der Nähe von Winsen an der Luhe Bargteheide oder Quickborn und Pinneberg. Obwohl ihre Beine wirklich so lang waren, dass sie nur zwei, drei Schritte gebraucht hätten, um die nahgelegene Metropole zu erreichen, nahmen sie ausnahmslos den Linienbus des städtischen Verkehrsverbundes. Sie wunderten sich dann immer über die Busfahrer, die einander im Vorbeifahren freundlich grüßend zuwinkten. Sie fragten sich, ob auch hier in der Großstadt alle Mitglieder des unüberschaubar erscheinenden Busfahrerkollegiums miteinander bekannt seien und ob sich auch diejenigen Omnibuschauffeure grüßten, die eine gegenseitige Antipathie verband, oder ob eine solche im rastlosen Treiben des Straßenverkehrs keine Rolle spielte. Schließlich blieben den Fahrern oft nur Bruchteile von Sekunden, um eine Grußentscheidung zu treffen. Unmöglich war die Komplexität dieses Denkprozesses für ein Straußenhirn nachzuvollziehen.

Während der Fahrt trainierten sie abwechselnd ein verhaltenes Lächeln und ihren möglichst geheimnisvollen Abwesenheitsblick. An ihrer Zielhaltestelle angekommen, holten sie mit der rechten Hand zuerst einen Stadtplan aus ihren mit Vogue oder Cosmopolitan beschrifteten großen Taschen, deren Trageriemen immer möglichst lässig über einer Schulter hingen, während sie mit der linken Hand die Evian-Flasche zum rotgeschminkten Munde führten. Niemals benutzten sie Falk-Pläne, das hatten sie gelernt. Mit deren Patentfaltung kamen sie nicht zurecht und für einen Einmalgebrauch waren diese zu hochpreisig. Es wurde unförmiges Kartenmaterial in Form eines Ringbuches bevorzugt. Den Stadtplan drehten sie immer mit ihrer jeweiligen Laufrichtung, doch mehr Orientierung verschaffte ihnen die unablässige Neujustierung nicht. In ihren Heimatdörfern brauchten sie keine Karte, schließlich gab es dort nur Haupt- und Kirchenstraße. Nach dem richtigen Weg zu fragen, traute sich keine von ihnen. Stattdessen stakselten sie, nachdem sie im Taschenspiegel ihr Make-up bereits das dritte Mal innerhalb einer Viertelstunde kontrolliert hatten, in ihren hohen Stiefeln instinktiv in sämtliche ihrem Ziel entgegengesetzte Richtungen, den Stadtplan, als sei selbstverständlicher nichts auf der Welt, dabei immer wilder drehend. In Mailand, Paris oder New York würden sie sich so nie zurechtfinden.