Kleine Theorie der Baustelle

Spät nachts durch dieses Berlin schlendernd erläutere ich meiner Begleitung meine kleine Theorie der Baustelle: Wer sich zu dieser Stunde hinter einem Bauzaun aufhält und keinen scharfen Hund an der kurzen Leine führt, ist kein mit dem Objektschutz bauftragter Mitarbeiter, sondern entwendet widerrechtlich Baumaschinen und -material.

Um den Beweis anzutreten, rüttle ich mutig an einem Bauzaun, um den dahinter befindlichen Mann zu uns zu bitten. „Was machen Sie da?“, frage ich ihn. Er scheint nicht sonderlich verwundert von meiner Auskunftsbitte zu sein, und antwortet höflich, dass er die Baustelle bewache. Es werde viel geklaut und randaliert etc. „Und wo ist Ihr Hund?“, bohre ich kritisch nach. „Ich habe keinen und ich brauche keinen“, sagt er. Daraufhin weihe ich ihn in meine Theorie ein, was den Sicherheitsmann ein wenig zu amüsieren scheint. Ich möchte wissen, ob es für ihn so ganz ohne Vierbeiner, mit dem man des Nachts sprechen könne, nicht äußerst langweilig sei, so die ganze Zeit allein um den Rohbau zu marschieren. „Ich schreibe Gedichte“, entgegnet er mir, was wiederum mich in ein mittleres Entzücken versetzt. Ein Wachmann, der Gedichte schreibt, bringt meine Theorie ins Wanken, denn naturgemäß kann man keinen bissigen Hund festhalten, während man feinste Gedanken in einem Notizbuch niederschreibt.

Zu gern hätte ich vor dem Bauzaun noch ein Stück Wachdienstlyrik gehört, allerdings konnte sich der Objektschützer nicht durchringen, aus seinem Werk zu rezitieren. Möglicherweise dichtet er gar nicht – so wie es auch nicht mein Beruf ist, im Puff Klavier zu spielen, was ich es lästigen Nachfragern gegenüber gelegentlich behaupte. Beiderseits ein wenig erfreut von diesem kurzen Gespräch wünschen wir einander eine gute Nacht. Er dreht seine Runden, wir ziehen weiter: Mit dem Gedanken, dass auch meine kleine Theorie demnächst in Verse gegossen werden könnte.

Zweifel

Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst

aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel

(Erich Fried)

Unter den Linden, Berlin: Noch vor wenigen Jahren stand an dieser Stelle der Palast der Republik. 2005 hat ein norwegischer Künstler in sechs Meter hohen neonleuchtenden Buchstaben das Wort ZWEIFEL auf das Dach des Gebäudes der ehemaligen Volkskammer der DDR montiert. Heute befindet sich ebendort eine etwas unwirklich erscheinende Rasenfläche, in die jemand ein Herz geschabt hat.

Zweifel, so dachte er häufig, klingt eigentlich gut, und meinte dabei aber mehr den Sound als die Bedeutung des Wortes. Er zweifelte oft an sich und der Welt; an dem, was er tat oder nicht tat. Gelegentlich traf er auf Leute, die so überzeugt von sich und der Richtigkeit ihres Handels waren, dass er daran sogar verzweifelte.

2008 wurde das Gebäude abgerissen. Der Zweifel blieb.