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St. Pauli
- Beitragsautor Von bosch
- Beitragsdatum 22. Februar 2010
- 8 Kommentare zu St. Pauli
- Schlagwörter Fotografie, Hamburg, Schnee, St. Pauli, Winter
Was ist eigentlich das Problem? Das Problem ist diesem Lande ist, dass zu wenig gewollt wird. Nur wer sich anspruchsvolle Ziele setzt, ist in der Lage, Höchstleistungen zu vollbringen. Stattdessen, wohin man auch schaut: Niveaulimbo.
Wer dem heutzutage etwas entgegensetzen will, der muss sich schon etwas Besonderes ausdenken. Gerade als Existenzgründer, gerade in der Gastronomie, gerade auf St. Pauli. Hier ist nicht Altkanzler Helmut Schmidt gefragt, der einst sagte, wer Visionen habe, der solle zum Arzt gehen. Hier ist gefragt, wem die die eierlegende Wollmilchsau noch zu wenig ist. Wer auf dem Kiez die zahlungskräftigen Besuchermassen für sich gewinnen will, der eröffnet nicht einfach eine Kneipe — es muss schon eine Lounge sein. Oder eine Sportsbar. Oder ein Café. Oder ein Irish Pub. Am besten alles zusammen und auch noch mit angeschlossenem Kiosk. Und was liegt da näher, als diese Einrichtung auch noch „Copa Cabana“ zu nennen? Gerade in dieser winterlichen Jahreszeit dürfte dieser sonneversprechende Name die Scharen mühelos anlocken. Hier ist man gerne Gast.
Hier sehen zwar alle besser aus als ich, aber dafür rieche ich besser. Die Damen tragen zumeist adrette Kleidchen, die Herren Hosenträger und Schiebermützen. Viele haben ein kleines Handtuch dabei, aber alle schwitzen. Manche Damen benutzen einen Fächer, um gegen den in der Luft liegenden Zigarettenrauch anzufächern. Die Band spielt Jazz aus der Ära vor Charlie Parker: keine rasanten Akkordfolgen, keine komplexen Skalen, eher einfache Improvisationen tänzeln um die Melodie herum; bodenständiger Swing, bekannte Standards. Zwischendurch gibt es Beschallung aus der Konserve; kein Schellack, sondern von der CD. Man scheint in dieser Hinsicht nicht allzu dogmatisch zu sein. Das ist mir sympathisch und klingt sicher auch weniger verstaubt.
Man tanzt Lindy Hop und lässt das einfach aussehen, so auch meine Begleitung. Vermutlich haben aber alle Tänzer jahrelang Wassermelonen getragen und Hebefiguren im Wasser geübt, um irgendwann den letzten Tanz der Saison tanzen zu können. Ich halte mich an einer Flasche Großbrauereipremiumpils fest und möchte nicht angesprochen werden; vor allem möchte ich nicht zum Tanz aufgefordert werden. Ersteres gelingt ganz gut, Letzteres nicht immer. „Ich tanze nur auf Gräbern“, antworte ich stets, wenn man mich ersucht, eine flotte Sohle aufs Parkett zu legen. Standard- und Latein-Tanzkurse in meiner Jugend haben mich nachhaltig traumatisiert und zum Eckensteher gemacht. Ich denke an eine Jacques-Brel-Adaption von Klaus Hoffmann: „Ich will Gesang, will Spiel und Tanz,/Will, dass man sich wie toll vergnügt./Ich will Gesang, will Spiel und Tanz,/Wenn man mich unter‘n Rasen pflügt“, heißt es dort wunderbar. Vielleicht würde ich ausnahmsweise auch auf einer Scheidungsparty tanzen. Sonst nie.
Mit meiner Antwort habe in der Lindy-Hop-Szene möglicherweise an nur einem einzigen Abend einen ähnlich zweifelhaften Ruf erworben wie der psychopathisch ausschauende Tänzer mit dem Pferdeschwanz, den alle nur nach einem Sturmgewehr russischer Bauart benennen. „In einer Hand ein Bündel mit deinem ganzen Hab und Gut, in der anderen die Waffe — man muss jederzeit in der Lage sein können, zu fliehen und sich gegen den Feind zu wehren“, erzählt er gelegentlich seinen Tanzpartnerinnen. Welchen Feind er meint, lässt er dabei stets offen. Obwohl er den Mensch an sich grundsätzlich ablehnt, soll er ein passabler Tänzer sein, erzählt man sich.
Ein letztes Mal in dieser Nacht spricht mich ein Mädchen aus einer fabelhaften Welt an, mit der ich vor kurzem schon einmal gesprochen hatte, woran ich mich jedoch nicht mehr erinnern konnte. Das bedaure ich und auch ein wenig, des amerikanischen Gesellschaftstanzes der endenden 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht mächtig zu sein. Mit ihr hätte ich vielleicht doch gern getanzt, obwohl in diesem Club, in den man sonst eigentlich nicht geht, gerade kein Grab geschaufelt war, auf dem ich hätte tanzen können. „It don‘t mean a thing, if it ain‘t got that swing.“
Auf der Herrentoilette hat jemand seine Krawatte vergessen. Ein billiges schwarzes Modell einer schwedischen Bekleidungskette. Vielleicht wurde der Binder auch einfach nur ausgesetzt. Gänzlich unerwartet, um 3 Uhr: das Licht geht an, die Musik geht aus. Der Saal wird geräumt. Am Folgetag beginnen zur frühen Stunde die Lindy-Hop-Kurse für die aus der ganzen Welt zu diesem Zweck angereisten Tänzer. Tanzen ist eben doch kein Vergnügen, sondern im Grunde genommen nichts als harte Arbeit. Und diese wird in der Szene offenbar ernster genommen als ausgelassen durchtanzte Nächte oder originalgetreue Tonträger.
Meine Begleitung und ich ziehen weiter: Saal II; seit vielen Jahren die Kneipe meines Vertrauens. Wir führen tiefgründige Gespräche und sitzen am Tresen: Die Liebe und das Leben und so. Obwohl ich beide Hände frei habe und gerade kein Feind in Sicht ist, bin ich vermutlich eher auf einer Linie mit Kalaschnikow. Mein Gegenüber ist etwas lebensbejahender. Es gibt Astra aus der Flasche und gesalzene Erdnüsse und Astra aus der Flasche und gesalzene Erdnüsse und Astra aus der Flasche. Nebenan fällt jemand, nach dem in der Speisekarte ein Frühstück benannt ist, fast vom Barhocker. Bei ihm gehen die Lichter aus, im Saal II gehen sie an.
6 Uhr, das Schanzenviertel ist fast menschenleer zu dieser Zeit. Mit Hamburg ist auch nicht mehr viel los, denke ich, und wir gehen ein paar Schritte weiter ins BP1. Die kleine Bar ist noch recht gut besucht und aus den Lautsprechern schallt die „Bohemian Rhapsody“; nicht die gerade im auf einem bekannten Videoportal zu großem Ruhm gelangte Version der Muppets, sondern das Original von Queen. Ein sehr unangenehm aufdringlicher Typ veranlasst mich, meine Begleitung abzuschirmen, und die Musik wird noch komischer. Den Gangsterrap erkennen wir nur unter Zuhilfenahme eines Musikerkennungsprogramms auf meinem Mobiltelefon, und Faith No Mores „Easy“ macht es uns auch nicht leichter, diese Bar zu lieben. Die fast zahnlose Barfrau mit dem tiefen Ausschnitt fordert zur letzten Bestellung auf und wir ziehen weiter in Richtung St. Pauli.
Es regnet ein wenig, was ich begrüße, denn so kann ich wenigstens etwas zeigen, das dem Ruf dieser Stadt gerecht wird. Unterwegs streifen wir den Grünen Jäger, der längst geschlossen hat, und auch auf dem Hamburger Berg ist weitestgehend Ruhe eingekehrt; komasaufende Jünglinge und bereits mehrfach vom Gelenkbus überfahrene Spelunkenstammgäste liegen längst in ihren Betten. Als wir auch in der Hasenschaukel und vor dem Golden Pudel Club vor verschlossenen Türen stehen, schäme ich mich ein bißchen für meine Stadt, obwohl es noch immer ganz schön vor sich hin nieselt. Nichts geht mehr.
Was jetzt noch bleibt, sind ein Krabbenbrötchen auf dem Fischmarkt, ein Blick auf „Aal-Kai“ und „Aale Dieter“, Fleisch-, Obst-, Gemüse-, Blumen und Klamottenstände sowie ein schlechter Kaffee zu Touristenpreisen in der Alten Fischauktionshalle. Meine aus Köln stammende Begleitung erfreut sich an der dort aufspielenden Cover-Band, der es gelingt, in frühen Morgenstunden dem hohen Norden eine karnevalesque Stimmung einzuhauchen. Ich fühle mich hier noch fremder als auf der Swing-Party. Sicher sind das hier alles rheinländische Touristen, denke ich; freue mich jedoch, dass meine Begleitung sich freut. Es ist bereits taghell, jedenfalls so hell, wie es nur an einem Tag Ende November sein kann, und ein paar Vögel, die es versäumt haben, gen Süden zu ziehen, zwitschern müde vor sich hin.
„Landungsbrücken rein“ in die U-Bahn, ein letzter Blick auf den Hafen und dann verabschiedet sich meine Begleitung. Auf dem Heimweg liegt mein Lieblingscafé, das bereits geöffnet ist. „Kaffee oder lieber noch ein Bier“, werde ich gefragt, nachdem man meine sofort Situation erkannt hat, weil man hier weiß, dass sonntagsmorgens um 9 Uhr nicht meine bevorzugte Frühstückszeit ist.
In Österreich gibt es den Beruf des Realitätenvermittlers. Man geht in seine Sprechstunde und möglichst schonend vermittelt er einem die Realität. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Tatsächlich verkauft er einem nur marode Immobilien zu überhöhten Preisen. Die Ernüchterung bei einem genaueren Blick hinter die Fassade ist bei den von ihm vermittelten Immobilien oft genauso groß wie bei der Erkenntnis, dass es sich bei dieser wohlklingenden Berufsbezeichnung um nichts weiter als einen Haus- und Grundstücksmakler handelt.
Bei ganz genauer Betrachtung erkennt man, dass die Realität ein Auge hat. Dort kann man hineinschauen. Dann sieht man Dinge, die man eigentlich gar nicht sehen wollte: z. B. dass der geliebte Mac auch nur ein Computer ist, dass der geliebte Mensch auch nur eine Frau ist, dass der teure Wodka mit dem Grashalm auch nur ein Kartoffelschnaps ist – oder dass das geliebte Hamburg auch nur eine Stadt ist.
Fast mein halbes Leben habe ich nun hier verbracht. Hamburg ist auf den ersten Blick schön: Alster, Elbe, Hafen, Michel, Fernsehturm, Schanze, St. Pauli und noch viel mehr. Nur was soll ich da? Einmal genauer hinsehen, der Realität in ihr matschiges Auge.
Wenn der Tourist von der Alster spricht, dann meint er nicht den Fluss, sondern den aufgestauten See mit kleinen Segelbooten und Schwänen sowie rundherum prachtvolle Villen. Doch der Eindruck trügt. Im Grunde genommen, teilt die Alster die Stadt fast unüberwindbar in zwei Teile. Will man vom Westen in den Osten, so muss man sie mühsam umfahren. Das richtige Leben spielt auf der Westseite; will man ans andere Ufer, muss man Strecken zurücklegen, die einen, obwohl man sich in einer Kleinstadt befindet, an Berlin erinnern lassen. Wenn es heiß ist, dann beginnt das kaum in Bewegung befindliche Wasser in den Seitenarmen der Alster unangenehm zu stinken.
Die Elbe ist schon etwas besser, immerhin führt sie heraus aus Hamburg in die große weite Welt. Spricht der Zugereiste vom „an der Elbe treffen“, so meint er jedoch meist die Strandperle. Die Strandperle ist nichts weiter als ein heruntergekommener Kiosk in der Nähe des Museumshafens Oevelgönne. Will man hier ein Bier erwerben, ist dies meist nicht nur lauwarm, sondern man muss auch, nachdem man nach Überwindung der langen Warteschlange schon fast dehydriert ist, so viel bezahlen wie woanders für eine ganze Brauerei. Dicht an dicht sitzen an sonnigen Tagen die Elbbesucher rund um die Strandperle herum und zwischen sich vergraben sie ihre noch glühende Grillkohle. Stets läuft man Gefahr, sich die Füße zu verbrennen. Will man die Gegend um die Strandperle herum sicher passieren, so empfiehlt es sich, auf die Menschen zu treten. Sie haben es nicht besser verdient.
Der Hafen, das Tor zur Welt. Industrieromantik bis zum Umfallen, jedenfalls vor der Wirtschaftskrise. Heute findet Handel kaum noch statt. Container samt -schiffe rosten unbenutzt vor sich hin, weil keiner mehr giftige Spielwaren oder leicht entflammbare Textilien aus China importieren will und sich niemand mehr auf der Welt Meisterwerke deutscher Ingenieurskunst leisten kann. Der Hafen dient nur noch als Kulisse für -rundfahrten. Eine Freundin aus dem Schwäbischen bezeichnete ihn ganz treffend als „große Baustelle auf dem Wasser“. Damals wurde zwar noch gebaut, aber ich schüttelte über diese Kategorisierung den Kopf. Heute weiß ich, dass sie Recht hatte.
Michel, Michel, wenn ich das schon höre. Busweise werden Touristen hierher gekarrt, um aus dem Fenster ihres Doppeldeckers einen Blick auf die Hauptkirche St. Michaelis zu erhaschen. Aber was gibt es schon zu sehen; ist das Gebäude doch zumeist mit Baugerüsten umhüllt, auf denen bevorzugt Betreiber von Atomkraftwerken für die Bewahrung der Schöpfung werben. Zwar kann man mit einem Personenaufzug den Turm erklimmen, allerdings ist es oben so vergittert, dass man keine Möglichkeit hat, sich auch herunterzustürzen. Bei Feierlichkeiten anlässlich von Staatsbegräbnissen allerdings macht die Kirche eine mehr als ordentliche Figur.
Telemichel, Telemichel, wenn ich das schon höre. Korrekt heißt der Hamburger Fernsehturm „Heinrich-Hertz-Turm“. Früher gab es dort oben ein Café, in dem man kännchenweise Kaffee trinken und dazu aufgeschäumte Tortenstücke bestellen konnte, während man dabei auf einer Plattform sitzend im Kreis gedreht wurde. Hier oben hatte man einen guten Ausblick auf die Stadt, aber das alles ist Geschichte. Der Turm ist längst nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich und wird es wahrscheinlich auch nie wieder werden. Im Prinzip könnte man ihn auch abreißen, vermutlich rottet er aber von innen vor sich hin und wird irgendwann von ganz allein umfallen.
Die Schanze war mal so etwas wie ein alternativer Stadtteil. Heute ist sie selbstverständlich in jedem Touristenführer zu finden. Während man auf dem verbreiterten Bürgersteig portugiesischen Milchkaffee aus Gläsern trinkt (auch bekannt als Galão-Strich, offene Koffeinszene), genießt man den Blick auf das besetzte Kulturzentrum gegenüber. Dessen Besetzer zünden einmal im Jahr ein Sofa an und stellen es auf die Straße. Dann kommen mindestens vier Wasserwerfer, löschen den Brand und werden dafür mit Steinen beworfen; unter Zuhilfenahme der übriggebliebenen Steine werden die umliegenden Bankfilialen und Ladenketten entglast. Während alteingesessene Ladeninhaber die Mieten im Viertel nicht mehr bezahlen können, haben sich hier bereits ein Adidas-Laden und McDonald‘s erfolgreich niedergelassen. Bald kommen H&M und Starbucks. Der Stadtteil ist zu einem einzigen Konjunkturprogramm für das Glaserhandwerk und Gentrifizierungsforscher verkommen.
St. Pauli lebt von seinem längst verblasstem Mythos, eine sündige Meile zu sein. Seefahrer haben hier einst ihre Heuer versoffen und sich mit leichten Damen amüsiert. Im Zeitalter der Containerschiffe sind die Liegezeiten im Hafen allerdings so kurz geworden, dass die Seeleute keine Zeit mehr für einen St.-Pauli-Aufenthalt hatten. Mit Blick auf den eingebrochenen Welthandel hätten sie diese zwar wieder, aber wohl kein Geld mehr für millieutypische Vergnügungen. Heute darf man hier nicht einmal mehr Waffen und Glasflaschen bei sich tragen und an der Stelle, wo einst Astra gebraut wurde, findet sich ein zwanzigstöckiges Designhotel. Darüber hinaus wird man in weiten Teilen St. Paulis auf Schritt und Tritt von Videokameras überwacht, die sich bei Gewalttaten schon mehrfach mutig zwischen Angreifer und Opfer geworfen haben sollen. Wer kein Geld für einen Mallorcaflug hat, kann sich hier abends Wochenende einer gepflegte Ballermannatmosphäre hingeben und tut dies auch.
Und sonst so? Clubsterben, Richter-Schill-Wähler und eine grüne Partei, die vor der Wahl Kohlekraftwerke bekämpft, um sie nach der Wahl zu genehmigen, sowie keine einzige lesbare Tageszeitung. Das einzige, was für die Stadt spricht, ist das wunderbar schlechte Wetter, aber auch das enttäuscht in diesen Tagen.
Ist das noch mein Hamburg, wie ich es lieben gelernt habe? In Hamburg hält mich im Moment nichts – aber nach Berlin zieht mich auch nichts.
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siehe auch: „Hamburg keine Perle“ von Tom Hillenbrand