Die kleinste Zelle von Heimat

Die kleinste Zelle eines Wortes ist ein Buchstabe. Die kleinste Zelle von Musik ist ein Ton. Die kleinste Zelle von Stammheim ist die Nummer 7 (oder Nummer 8). Was aber ist die kleinste Zelle von Heimat?

Planet Erde, Europa, Deutschland, Hamburg oder Berlin, Winterhude oder Prenzlauer Berg, eine Straße, ein Café, ein Sofa. Was ist die kleinste Zelle von Heimat? Ich begebe mich auf die Suche nach ihr. Zunächst das Naheliegende: Suchanfrage im Internet. Kein Ergebnis. Kann es etwas geben, das es nicht auf Google gibt? Die Maschine schlägt vor: „Die kleinste Zelle im Menschlichen Körper.“ Ich will keinen Körper, ich will Heimat.

Tage später, Hamburg, 12.17 Uhr. Es klingelt an der Tür. Seit über drei Stunden warte ich darauf, dass es klingelt. Endlich ist es so weit: der Heizungsableser ist da. Heimat ist da, wo man auf den Heizungsableser wartet, denke ich. Aber sofort schießt es mir in den Kopf, dass das Quatsch ist, denn weder ein Ort, an dem man auf einen Menschen wartet, der einen unverständlichen Wert von kleinen Röhrchen an Heizkörpern abliest, noch den Ableser selbst würde man vermissen, wenn man sich an einem ganz anderen Ort befände. Und Heimat ist doch etwas, das man vermisst, wenn man gerade ganz woanders ist. Also frage ich den Heizungsableser: „Was ist Heimat? Also nicht so global, sondern eher: Was ist die kleinste Zelle von Heimat?“ Er schüttelt mit dem Kopf und sagt: nichts. Warum habe ich auch ausgerechnet den Ableser gefragt, frage ich mich nun. Vermutlich hätte er etwas sagen können wie „Heimat ist da, wo man die Heizung anstellt, wenn einem kalt wird“, oder so ähnlich. Stattdessen gibt er mir den Ratschlag, doch einfach mal im Internet zu recherchieren.

Wochen später, Zwischenstop im Café: Vertraute Gesichter, die bewährte Tageszeitung, Cappuccino. Es ist eine Art Offline-Social-Network, ganz ohne lästige Kontaktanfragen von Leuten, die man nicht kennt und auch nicht kennenlernen will, oder Hinweise darauf, was irgendwem gefällt. Es ist gut hier, denke ich, während ich auf meinem roten Lieblingssofa sitze und ein Stück Käsekuchen genieße.

Stunden später Berlin, am selben Abend, Hauptbahnhof: Sushi, Burger, Krautsalat im Roggenbrötchen, Naturkosmetik, Drogeriemarkt, Fotoladen, WC-Center; an den Bahnsteigen: Wartende, Abschiede, Begrüßungen. Manche steigen in den Zug, andere werfen sich vor ihn. Lautsprecherdurchsagen, Werbeplakate, Coffe-to-Go, Schließfächer, Bahnhofsmission, Friseur, Rollschuhe verboten, Autovermietung, Stadtrundfahrt. Seit Wochen beschäftigt mich die Frage nach der kleinsten Zelle von Heimat, DkZvH, wie ich sie mittlerweile liebevoll nenne, seitdem mich die Macher dieses Magazins darum gebeten haben, darüber einen kleinen Beitrag zu verfassen.

Kann Berlin eine Heimat sein, wenn schon der Hauptbahnhof so unübersichtlich ist? Die kühle Architektur, die Hektik, das Stimmengewirr laden zur Umkehr nach Hamburg ein, aber dort ist es am Bahnhof genau so, nur etwas kleiner. Aber muss man an Heimat alles uneingeschränkt lieben?An Hamburg mag man den Hafen und die Elbe. Aber was ist mit Mümmelmannsberg und der Elbphilharmonie? An St. Pauli mag man den Charme des etwas Heruntergekommenen, Astra aus der Flasche und vielleicht auch noch den Fußballverein. Aber was ist mit den besoffenen Touristen und der Hundescheiße auf der Straße? Und Berlin? So schlecht ist es nicht, wie alle in Hamburg immer sagen.

Die Suche geht weiter: Die kleinste Zelle von Heimat, das ist ein Ort, an dem man doch vielleicht alles uneingeschränkt mögen kann. Ich begebe mich noch einmal ins Internet. In das Feld der Suchmaschine gebe ich jetzt nur das Wort „Heimat“ ein: Heimat ist eine Werbeagentur, verrät mir die Suchmaschine und zweifle, ob „Heimat“ wirklich eine Heimat ist. Ich schlage in der Wikipedia nach: „Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum […] Mit dem Wort „Heimat“ können somit nicht nur konkrete Orte (die Heimstätte eines Menschen), sondern ganz allgemein auch reale oder vorgestellte Objekte und Menschen bezeichnet werden, mit denen Menschen sich identifizieren und die sie positiv bewerten.“

Ich versuche, mir ein vorgestelltes Objekt vorzustellen, das ich positiv bewerte: ein Wiener Schnitzel – groß wie ein Teller, dünn wie ein Pfannkuchen, knusprig dünn paniert, innen saftig. Aber was ist mit der Identifikation? Identifikation ist auch das Einfühlen in eine andere Person. Selbst unter der Annahme, dass ein Schnitzel eine Person wäre, möchte ich mich nicht mit einem Schnitzel identifizieren. Nicht einmal mit der Vorstufe des glücklich auf einer grünen Weide grasenden Bio-Kalbes. Ein Schnitzel ist also keine Heimat und somit beinhaltet es auch nicht DkZvH.

Ziemlich genau sechs Wochen hatte ich Zeit für diesen Text, in weniger als zwei Stunden muss ich ihn abgeben. Was DkZvH ist, weiß ich noch immer nicht. Ich beginne zu verzweifeln, verwerfe alle Genken über Suchmaschinen, Bahnhöfe, Werbeagenturen, Identifikation und Fleischgerichte und tippe in meinen Rechner: Die kleinste Zelle von Heimat ist das bequeme Sofa, auf dem ich gerade sitze.

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Dieser Beitrag wurde im Mai 2010 im stijlroyal Heimatmagazin #13 veröffentlich. Es erschien unter anderem in den limitierten Sondereditionen „Zenzi“, „bosch“ und „Café du passage“.

Flatterband

Die Polzei war da. Sie hat ein Flatterband angebracht. Auf dem Boden keine Kreidezeichnung eines Körperumrisses. Nicht einmal eine vom Schnee bedeckte Kreidezeichnung. Stattdessen zwei Armbrüche gestern, von unglücklich Gefallenen, weil es auf der Treppe, an dem schmalen Durchgang zur U-Bahn so glatt war.

Der Winterdienst der Stadt hat den Weg einfach vergessen oder war überfordert und den Schneemassen nicht mehr Herr. „Hier wird nicht geräumt und nicht gestreut“ stand auf keinem Warnschild. Trotzdem wurde nicht geräumt und nicht gestreut — bis heute der Freund und Helfer kam und Hand anlegte. Danke. Jetzt ist die halbe Treppe frei — die andere Hälfte ist gesperrt, die Arme sind gegipst.

Sonntagsspaziergang

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Modetrend Papagei

flickr: Papageien
Foto: Andy Tinkham

Papageien (Psittacidae) sind soziale Vogelarten, die, mit Ausnahme von Europa, auf allen Kontinenten verbreitet sind“, so steht es zumindest in dem von der Sachverständigengruppe Gutachten über die tierschutzgerechte Haltung von Vögeln herausgegebenen Schriftstück Mindestanforderungen an die Haltung von Papageien. Mein Eindruck ist jedoch ein anderer. Die Zeiten ändern sich; schließlich ist das erwähnte Papier bereits aus dem Jahre 1995 und somit sicher etwas veraltet.

Gestern ging ich durch die Straßen St. Paulis und dachte – wie es bereits Heinrich Heine tat -, was ein junger Mensch zu denken pflegt, nämlich gar nichts. Plötzlich kam ein Mann vorbei, auf dessen Schulter ein Papagei, genauer gesagt ein buntgefiederter hellroter Ara, saß. Wie uns das Merkblatt aus dem Hause Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher weiter lehrt, ist das Bedürfnis dieser Vogelart nach sozialen Kontakten „durch Paarhaltung oder, bei begründeter Einzelhaltung, durch tägliche ausreichende Beschäftigung mit dem Vogel nachzukommen.“ Der Mann, offensichtlich ein gewissenhafter Tierhalter und -freund, schien mit dem Inhalt des Merkblattes bestens vertraut zu sein; jedenfalls erschien mir das Ausführen des gefiederten Freundes die Auflage der ausreichenden Beschäftigung zu erfüllen und das Fehlen eines zweiten Tieres erfolgreich zu kompensieren. Wer einen Papagei besitzt, der muss ihn auf seiner Schulter ausführen; das war schon in den alten Piratenfilmen so. Zwei Papageien gleichzeitig auf den Schultern auszuführen, wäre sicher eine weitaus größere Herausforderung, aber ein derartiger Ausflug wäre obsolet, weil die Vögel sich laut Merkblatt in diesem Falle mit sich selbst beschäftigten.