Warenwelten #2: Buchkaufhaus

Dieses Einzelhandelsgeschäft könnte sich in der Prachtmeile einer jeden Großstadt oder in einem gehobenen Einkaufszentrum befinden. Die Räumlichkeiten sind großzügig angelegt und die Gänge weitläufig. Das Licht ist hell und fast einladend, aber der geflieste Boden strahlt gleichzeitig eine elegante Kälte aus. Auch eine Sitzecke mit Espressomaschine darf hier nicht fehlen. Sind wir bei Jil Sander, Escada oder gar bei Chanel?

Ein Blick in das Handelsregister verrät uns, dass es sich um die Filiale eines sogenannten Buchkaufhauses handelt. Ein Blick in die Regale verrät, dass es sich tatsächlich aber um einen Gemischtwarenladen handelt. Hier gibt es alles: Kalender, Schreibwaren, Geschenkartikel und Schokolade. Hier gibt es alles – außer Bücher. Wer hier nach einem Werk Thomas Bernhards Ausschau hält, wird immer nur Die Tochter der Pferdefrau von Jutta Beyrichen finden.

Wer sich jedoch genauer umsieht, wird aber auch an diesem Ort auf eine größere Auswahl an Druckerzeugnissen in Form von bunten Taschenbüchern stoßen. Diese werden konsequenterweise gleich nach Farben sortiert präsentiert. Alle Titel, die gerade nicht mehr in einem der zahlreichen Bestseller-Stellagen auf ihre Käufer warten, sind entweder auf einem der großen Ramschtische im Eingangsbereich zu finden oder werden in thematisch sortierten Stellagen zusammegepfercht. Die beliebtesten Rubriken sind natürlich „Beste Unterhaltung“, „Liebe & Romantik“ und „Freche Frauen“.

Wer sich freiwillig an diese Stätte des Konsums begibt, der wollte entweder eigentlich zu Jil Sander oder er sucht nach einem Präsent für einen Menschen, den er so sehr mag wie ein Loch im Kopf. Man hat aber auch schon davon gehört, dass Schaufensterdekorateure von Regalfachmärkten hier nach geeigneten Dekorationsgegenständen Ausschau halten. Freunde der Literatur indes sind hier so selten anzutreffen wie ein Vegetarier in der Metzgerei.

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Stolpersteine

Auch auf vermeintlich ebenen Wegen kann man leicht aus dem Gleichgewicht geraten. Schallt einem ausgerechnet in diesem Moment der Schwäche ein eher belustigtes als fürsorgliches „Obacht!“ aus dem Munde eines diese Szenerie genüsslich beobachtenden Mitmenschen, welcher seine klammheimliche Vorfreude über den von ihm erwarteten Fall kaum zu unterdrücken vermag, entgegen, so weiß man nicht, ob man nun, da an dieser doch eher peinlichen Situation nichts mehr zu ändern ist, angesichts der eigenen vermeidbaren Unachtsamkeit oder mit Blick auf die unvermeidbare Niedertracht des anderen verdrießlich sein sollte. Hilfreich und angemessen ist es indes, in derartig mißlichen Situationen möglichst aufrechten Ganges von dannen zu ziehen und die Gewissheit auszustrahlen, dass ein unerwartetes Taumeln auf tatsächlich ebener Strecke das Selbverständlichste auf der Welt sei. Nur bei größtmöglicher Ausstrahlung von Selbstsicherheit kann das wortlose Zurücklassen des vormals schadenfrohen Beobachters, welcher sich selbst nun wiederum ein wie soeben an den Tag gelegtes famoses körperbeherrschendes Gleichgewichtsvermögen wünscht, eine solche Begegnung in einen späten Triumph verwandelt werden.

Utz, Kapitel 3: Schleudertraining


Foto: pulfi

Utz quälte sich sehr. Er fährt nicht gern mit dem Linienbus seit dem Vorfall, damals. Außerdem ist er nicht nur erster Beisitzer im Verein zur Pflege der Schirmmützenkultur Deutschlands e. V., sondern auch überzeugtes ADAC-Mitglied. Zu seinem vorletzten Geburtstag bekam Utz einen Schleuderkurs geschenkt. Seitdem konnte er vom Schleudern nicht mehr lassen. Überall musste er, nachdem er diesen Lehrgang mit Auszeichnung absolvierte, seine Kenntnisse in die Praxis umsetzen: auf engen Einbahnstraßen, einsamen Landstraßen und immer wieder auch auf stark frequentierten Autobahnen. Es war wie eine Sucht. Sobald Utz hinter dem Steuer eines Kraftfahrzeuges saß, musste er das Lenkrad herumreißen und gleichzeitig mit ganzer Kraft die Handbremse ziehen. Der Druck ließ erst von ihm ab, wenn sein Auto um 180 Grad gedreht war.

Der Zwang zum Schleudern beherrschte ihn im Laufe der Zeit immer mehr und irgendwann war das unvermittelte Umdrehen der Fahrtrichtung der einzige Kick in seinem tristen Leben, der ihm noch den Ansatz einer Befriedigung verschaffen konnte. Auch zahlreiche Psycho- und Verhaltenstherapien konnten ihm nicht den Weg in die richtige Richtung weisen. Nach dem letzten Therapeutenstammtisch, bei dem alle Psychotherapeuten der Stadt utzgeschädigt – schleudertraumatisiert und mit Halskrausen bekleidet – resigniert beisammensaßen, war klar, dass es niemanden gibt, der Utz von seinem Schicksal befreien konnte.

Seit der letzten von ihm verursachten Massenkarambolage steckt Utz in seiner bislang düstersten Melancholie. Nicht der vielen Verkehrsopfer wegen bläst er Trübsal, sondern einzig und allein, weil ihm das Schleudern fehlt. Nur stark benebelnde Psychopharmaka machen es ihm möglich, das abscheulichste aller Verkehrsmittel zu benutzen: den öffentlichen Linienbus.

Warenwelten #1: Einkauf mit Frau

Ein etwa siebenjähriger Junge begleitet seine Mutter widerwillig in ein Warenhaus. Die Mutter wünscht, in der Wäscheabteilung einen BH zu erwerben, welcher ihre Brüste in möglichst vorteilhafter Form präsentiert. Den Jungen interessiert die Präsentation von Brüsten, zudem noch die seiner Mutter, naturgemäß wenig.

Viele Jahre später, wenn der Stimmbruch überstanden ist, die Barthaare sprießen und auch das Interesse für vorteilhaft präsentierte Brüste zugenommen hat, wird er als Mann an der Seite seiner Holden an den noch immer ungeliebten Ort zurückkehren. Er wird dann in einem unbequemen Sitzmöbel platznehmen und mit seinen dort bereits seit Stunden ausharrenden Leidensgenossen kein Wort wechseln. Dafür wird er alle zwei Minuten abwechselnd einen Blick auf seine Armbanduhr und auf seine sich unendlich oft umkleidende Liebste werfen. Seine Ungeduld wird im gleichen Maße zunehmen wie die durch Einkaufsgenuss hervorgerufene Glückseligkeit seiner Begleiterin. Gleichzeitig wird er sich über den in der Herrenwarteecke aufgestellten Trinkwasserspender ärgern, denn dieser ist entweder leer oder verkeimt. Sollte beides einmal nicht zutreffen, und und sich der Mann bereits auf die Zufuhr eines kühlen Trunks freuen, um der bereits einsetzenden Dehydrierung in der Einkaufswüste entgegenzusteuern, dann werden ganz bestimmt die Einwegbecher fehlen.

In diesem Moment wird ihm dann das erste Mal bewusst werden, dass die einzigen Jahre, in denen ein Mann so richtig frei ist, diejenigen zwischen Grundschulalter und dem Beginn der ersten festen Beziehung sind – die wenigen Jahre im Leben eines Mannes, in denen keine Frau zum Einkauf begleitet werden muss. Aber davon ahnt der kleine Junge jetzt noch nichts.