Tagebuch eines EM-Verweigerers Teil 2: Erste Einschränkungen


Rohen Fisch mag ich so gern wie Fußball – trotzdem bin ich bei dieser EM auch für Japan.

Eigentlich könnte mir dieses ganze Fußballtamtam egal sein. Ich habe die Europameisterschaft nicht bestellt, und doch schleicht sie sich durch die Hintertür in mein Leben. Das behagt mir nicht.

Die Fahnen, der Jubel, das Hupen – sollen sie von mir aus alles machen. Schließlich bin ich tolerant. Ich habe nichts gegen Menschen, die sich an einem Gummiband befestigt eine Brücke hinunterstürzen oder Geld dafür bezahlen, sich auspeitschen zu lassen. Warum sollte ich etwas gegen Fußballfans haben? Vergangenen Sonntag allerdings, als ich, wie gewohnt, um viertel nach acht mein Fernsehempfangsgerät einschaltete, bekam ich das erste Mal die Schattenseiten meines Daseins als EM-Verweigerer zu spüren. Statt der Ausstrahlung eines nagelneuen Tatorts wurde mir lediglich ein recycelter Kriminalfilm vorgesetzt. Dies nur, weil auf dem Nachbarsender ein Fußballspiel übertragen wurde. Offensichtlich gibt es mehr Fußballfans als Tatortfans, was mich am Zustand unserer Gesellschaft weiter zweifeln lässt. Soweit ich mich erinnern kann, wurde noch nie ob der Erstausstrahlung einer grandiosen Tatortfolge auf einem anderen Kanal die Wiederholung eines Fußballspiels gezeigt.

Doch selbst für mich hat die Austragung dieses Kickerturniers auch seine guten Seiten: Während die deutsche Nationalmannschaft gegen Kroatien am Donnerstag eine verdiente Niederlage einfuhr, befand ich mich in einem Einkaufszentrum. Normalerweise fühle ich mich in diesen Konsumtempeln so wohl wie in Premiere-Sportbars. Nur dieses Mal war alles ganz anders, denn alle übelriechenden Einkäufer, die sich hier gewöhnlich auf die Füße treten, und einem jegliches Einkaufsvergnügen verleiden, waren abwesend. Nur gelegentlich begegnete mir zwischen 18 und 20 Uhr ein anderer Fußballverweiger: Immer dann zwinkerten wir uns im Vorübergehen verschwörerisch zu – jeder Konsument ein Bruder im Geiste.

Im Anschluss an die Partie konnte ich mich noch ein wenig am Anblick von unter Tränen verlaufener schwarz-rot-goldener Schminke erfreuen. Doch sofort stieg auch in mir ein Hauch von Patriotismus empor. Plötzlich hoffte ich, „unsere“ Nationalelf würde die Vorrunde überstehen, sonst müsste ich bis zum nächsten entspannten Einkaufserlebnis noch zwei weitere Jahre, bis zur kommenden Weltmeisterschaft, warten. Am Montag spielt Deutschland gegen Österreich – vielleicht gehe ich währenddessen mal wieder zum Friseur.

Tagebuch eines EM-Verweigerers Teil 1: Jetzt geht’s los

Jetzt geht es wieder los: Die angestaubten Fähnchen werden aus den Kellern geholt und an die blankgeputzten Kraftfahrzeuge montiert. Und auch die Plasmafernseher in den Kneipen, die in den letzten Monaten nur als Bildschirm für Kamin-DVDs dienten, rücken wieder in den Mittelpunkt des Bewusstseins. Selbst die Kanzlerin musste heute in einem ganzseitigen Interview in der Süddeutschen Zeitung ihre Liebe zum Fußball öffentlich bekennen, nur um ein paar Wählerstimmen zu gewinnen – nach der Wahl ist schließlich vor der Wahl.

Ansonsten vernünftige Menschen, die normalerweise nicht im Traum daran denken würden, ein Premiere-Abo abzuschließen, um ein paar verschwitzten Männern dabei zuzusehen, wie sie einem Ball hinterherlaufen, sind plötzlich wie ausgewechselt, und und finden es toll, dass es wieder überall Public-Viewings gibt, mit Bierständen, obwohl sie eigentlich sonst lieber Wein trinken, und dass die Kanzlerin jetzt auch ein Fußballfan ist und dass in den Kneipen endlich keine Kamin-DVDs mehr gezeigt werden. Dieses sportliche Großereignis lässt ansonsten kultivierte Menschen wochenlang mit Freunden und Menschen, die plötzlich zu Freunden werden, obwohl man mit ihnen unter normalen Umständen kein Wort wechseln würde, weil man sie verächtlich als Fußballprolls bezeichnet, in Kneipen vor Fernsehern hocken und Bier trinken und Gröhlen und Mitfiebern, und anschließend beteiligen sie sich an einem Autocorso und feiern ausgelassen ein großes Fest, eine bunte Party, ein fantastisches Ereignis, und man freut sich, dass alle Menschen Brüder werden, zumindest alle Europäer, weil es ja eine Europameisterschaft ist, und nach ein paar Wochen ist wieder Normalität, sprich Bundesliga, und sie interessieren sich nicht mehr auch nur ein kleines bißchen für verschwitzte Männer, die einem Ball hinterherrennen, selbst wenn die Nationalmannschaft zu einem Freundschaftsspiel in Timbuktu oder was weiß ich wo zu Gast ist. Das überlässt man den dann ehemaligen Freunden, die ein Premiere-Abo haben, und regelmäßig Bundesliga gucken und die die Abseitsregel im Schlaf erklären können und mit denen man zwischen Welt- und Europameisterschaften kein Wort wechseln würde, weil man diese Leute ja nicht als seine Freunde, sondern als gemeine Fußballprolls bezeichnet, denn sie besitzen eine Jahreskarte für den HSV, dem sie selbst zu Auswärtsspielen nachreisen, und interessieren sich nicht im Geringsten für die sympathischeren Kiezkicker von St. Pauli und haben außerdem in ihrer Musiksammlung alle CDs von Lotto King Karl, natürlich nur signierte Ausgaben mit persönlicher Widmung.

Mir ist das alles egal. Ich lehne Fußball ab – ob nun Europameisterschaft ist oder nicht. Mir macht es nichts aus, auch mal im Abseits zu stehen, aber ich muss ja im nächsten Jahr auch keine Bundestagswahl gewinnen.

Klappradfahrer, das unbekannte Wesen

Klapprad
Illustration: lady-kinkling

Nie zuvor machte ich mir Gedanken über das Wesen des Klappradfahrers. Bei allen anderen Fahrradtypen stellt sich diese Frage nicht, denn die Antworten erscheinen eindeutiger: Windschnittige Modelle ohne Schutzblech und mit breiten Reifen fahren Fahrradkuriere, gemütliche Citybikes mit Korb fahren Menschen wie mein früherer Geschichtslehrer, der zwar den Führerschein der Klasse III auch im dritten Anlauf nicht bestanden hat, aber dafür schon früh ein entschlossener Kämpfer für die Verbreitung von Fahrradhelmen war. Leider sah er mit seiner Eierschale auf dem Kopf so dümmlich aus, dass er entgegen aller Vernunft und Zunahme von überdimensionierten Geländewagen in Großstädten noch immer einer der Hauptgründe dafür ist, weshalb ich auf einen derartigen Kopfschutz verzichte. Gepimpte Cruiser fährt der Nachwuchs der Mitglieder von Motorradgangs, Liegefahrräder fahren Althippies, die sich einen lang gehegten Fortbewegungstraum erfüllen wollen und sich noch zu jung für einen Rollstuhl fühlen. Ein Fahrrad mit Hilfsmotor fährt meine Oma und Kardioräder fahren Fitnessfanatiker, die das Wort Trimm-dich-Fahrrad nie in den Mund nähmen, aber trotzdem nicht von der Stelle kommen.

Doch was für ein Typ Mensch ist der Klappradfahrer? Bis gestern noch habe ich gedacht, er sei ein schizophrener Spießer: Einerseits spart er sich den kleinsten Fußweg bis zur nächsten Regionalbahnhaltestelle und achtet vor dem Losfahren peinlich genau auf die Anbringung von Fahrradklammern, um seine C&A-Hose nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Andererseits schleppt er sich mit seinem Faltdrahtesel halb zu Tode und transpiriert dabei übermäßig in die von ihm ansonsten so behütete Polyacrylhose. Seit heute jedoch weiß ich es besser: Innerhalb von drei Minuten sind mir gleich zwei Menschen auf ihren viel zu zierlichen Velos begegnet. Diese übermäßige Konzentration, die selbst mich als aufmerksamen Beobachter des Zweiradwesens überraschte, nutze ich sogleich für eine kleine Sozialstudie zur Erforschung des unbekannten Wesens.

Der erste trug ein weißes Leinendress, auf dem Kopf eine wilde Lockenpracht und natürlich war er barfuß – ganz sicher war dieser junge Mann ein Resultat der freien Liebe, wie sie seit den späten sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts bevorzugt in Wohngemeinschaften, den sogenannten Kommunen, praktiziert wird, und vermutlich ein Abkömmling Rainer Langhans. Daß er mir mit seinem Vehikel fast über den Fuß fuhr, nahm ich ihm nicht übel; sein Schwanken war sicher nur Ausdruck einer Nebenwirkung der von ihm bereits mit der Muttermilch aufgenommenen bewusstseinserweiternden Substanzen.

Der zweite entsprach optisch dem Ebenbild Reinhold Messners. Sein Bruder konnte es nicht gewesen sein, denn dieser ist einst bei einem tragischen Unfall vom Berg gefallen – aber um einen nahen Verwandten handelte es sich mit Sicherheit. Er war eindeutig am messnerschen Rauschebart zu identifizieren, zudem bewältigte er mit seinem Faltrad die für Hamburger Verhältnisse ungewöhnlich starke Steigung von 3,5 % nahezu mühelos – und das ohne Zuhilfenahme von Nabenschaltung und Sauerstoffgerät.

So schwer es auch fällt, ich muss nach diesen Beobachtungen mein Urteil über den Klappradfahrer als solches revidieren. Der Klappradfahrer ist der Nonkonformist auf zwei Rädern. Er bringt ein Höchstmaß an Individualität auf die Straße. Er ist zwar nicht der Schnellste unter den Radfahrern, aber wie er so auf seinen kleinen Rädern dahingleitet, wohl doch der Lässigste. Berauscht von Muttermilch und Natur gleitet er – fast wie auf Schienen – allen anderen Fahrradfahrern davon. Mit Wohlwollen betrachte ich ab sofort den Eigensinn dieses besonderen Menschenschlages und wünsche ihnen immer eine gute Fahrt – oder, wie man in Fachkreisen sagt: Gut Klapp!