1. Poetry-Slam
Wir befinden uns in einem Kinosaal in Ottensen, einem Kellerclub auf der Reeperbahn oder in einer Studentenkneipe in Uninähe. Die Moderatoren schreiben selbst gern. Sie zieren sich zunächst, ihre Texte vorzutragen und treten aber, wenn sich eine zu kleine Anzahl von Lesern dem Wettbewerb stellt, um den Eintrittspreis zu rechtfertigen, außerhalb der Konkurrenz auf. Die meisten Teilnehmer wollen einfach nur mal auf einer Bühne stehen oder sie treibt die Aussicht auf freien Eintritt und einen Getränkegutschein. Es sind immer dieselben. Die Karavane der kämpfenden Poeten zieht von Veranstaltung zu Veranstaltung. Nur manchmal verirrt sich jemand aus Hannover hierher und trägt zaghaft aus seinem zwei Gedichte und einen Prosatext umfassenden Gesamtwerk vor. Gute Chancen, beim Publikum anzukommen, hat, wer auf der Bühne eine Jacke trägt und eine Bierflasche in der Hand hält. Das würde ich auch so machen. Als hilfreich hat sich zudem erwiesen, nach dem Lesen die abgearbeiteten Zettel lässig fallen zu lassen. Dann muss die Schriftgröße allerdings groß genug gewählt sein, schließlich präsentiert man eher kürzere Texte. Darauf würde ich verzichten. Schließlich muss man im Anschluss seine Zettel wieder mühsam vom Boden aufsammeln. Selten sind Schauspielschülerinnen dabei, die ihre zarte Liebeslyrik mit sanfter Stimme dem Publikum entgegenhauchen. Immer dazu gehören aber Rentner, die es stets pünktlich zum Wettlesen aus ihren Vororten in die Großstadt zieht, um dem jugendlichen Publikum von früher zu erzählen oder sich kreuzreimend mit den politischen Ansichten von Oskar Lafontaine zu solidarisieren. Die Jury wird aus dem Publikum rekrutiert. Nach der Pause ist die Hälfte von ihnen meistens verschwunden.
2. Organisiertes Lesungswesen
Wir befinden uns in einem Loftgebäude in Hasselbrook, dem Nebenraum eines großen Theaters, einem Kulturzentrum in der Schanze oder einer kleinen Bar im Grindelviertel. Hier veranstalten ambitionierte Literaten in privater Initiative semiprofessionelle Lesungsreihen mit wechselnden Gästen. Die Veranstalter sind gut miteinander bekannt und werben freundlich mit Ankündigungen und bunten Handzetteln für die kommenden Literaturereignisse der jeweils anderen Organisatoren. Genauso werden auch Literaten, denen das Publikum besonders wohlgesinnt ist, weitergereicht. Autoren aus anderen Städten sind stets willkommen, auch wenn es sich um kleinere Großstädte oder größere Kleinstädte handelt, schließlich ist man hanseatisch weltoffen. Manchmal werden sogar Gäste aus Österreich oder der Schweiz eingeladen. Nicht wenige von ihnen haben, als sich bei ihnen bereits graue Schläfen abzeichneten, den von ihrer Heimatstadt ausgelobten Nachwuchsliteraturpreis verliehen bekommen. Nur böse Zungen behaupten, dass dies nur dadurch zu rechtfertigen sei, dass es sich bei dem Preisträger um den einzigen Schriftsteller der Region handle. Die Leser treten vereinzelt mit einem gebundenen Buch auf, das sogar in einem echten Verlag erschienen ist – Books on demand sind eher verpönt. Nach dem Vortrag können die Werke am Büchertisch käuflich erworben werden. Das macht sich immer gut. Schade nur, dass die Schriftsteller, deren Ausgaben beim Publikum besonders gefragt sind, immer nur das eine Exemplar dabei haben, aus dem sie gerade gelesen haben.
3. Lesung im Buchhandel, wenn es voll wird, auch im Theater,
seltener im Museum
Wir befinden uns in der Filiale einer großen Buchhandelskette. Ist der Schriftsteller sehr berühmt, findet die Lesung in einem Theater statt. Der Autor ist auch dem breiten Publikum, das sonst dem Literaturgenuss eher abgeneigt ist, bekannt und war schon häufiger in den Bestsellerlisten zu finden. Im Anschluss an die Lesung werden die Bücher artig von ihm signiert. In Wirklichkeit handelt es sich um eine literarische Kaffeefahrt, denn die Veranstaltung dient vornehmlich der Steigerung der Auflage. Dem zahlenden Publikum ist das egal. Der Eintrittspreis muss immer zweistellig sein. Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Eine Agentur scoutet Modelle für die kommende Coregatabs-Werbung und sponsort die Mohnbrötchen am Buffet. Der Sekt kostet extra. Nach der Autogrammstunde verlässt der Schriftsteller eilig den Saal, er muss zu Kerner oder Beckmann. Dem Publikum ist es egal, es ist mit sich selbst beschäftigt.
4. Lesung im Literaturhaus und/oder der Akademie der Künste
Nur für Nobelpreisträger.
______________________________________________________
Nachtrag: Gern will ich die Anregung von Herrn Paulsen aufnehmen und die in meinem Text unter Punkt 1 und 2 angedeuteten Literaturveranstaltungen hier noch einmal in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Klartext ausdrücklich allen meinen Lesern ans Herz legen:
- Zeise Late Nigt Poetry Slam: jeder 2. Freitag des Monats in den Zeise Kinos
- Hamburg ist Slamburg: jeder letzte Dienstag des Monats im Molotow
- Slam the Pony: jeder 3. Freitag des Monats im Kulturhaus III&70
- Kaffe.Satz.Lesen: jeder letzte Sonntag des Monats in der Baderanstalt
- Machtclub: jeder zweite Dienstag des Monats im Malersaal, Deutsches Schauspielhaus; Nachtrag: Der Machtclub schließt leider auch im Mai dieses Jahres seine Pforten.
Transit: jeder erste Dienstag des Monats im Kulturhaus III&70(leider zum letzten Mal am 5. Februar 2008)QuerLängs – Die Lesebühne: jeder zweite Samstag des Monats in der Mathilde-Bar; neu: jeden dritten (oder 4.?) Donnerstag im Kulturhaus III&70
Darüber hinaus finden sich auf literaturinhambug.de, im redereihamburgblog sowie auf der Homepage des mairisch Verlages wertvolle Hinweise auf aktuelle Leseveranstaltungen.
———————————————————————————-
Nachtrag 2: Dieses Linkverzeichnis erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich werde mich jedoch bemühen, es regelmäßig zu pflegen und bei Bedarf zu ergänzen. Über Hinweise auf hier nicht erwähnte Veranstaltungen freue ich mich und werde sie umgehend in das Verzeichnis aufnehmen.
Weitere Literaturveranstaltungen in Hamburg:
- Literatur-Quickie: jeden Mittwoch um 22.30 Uhr im „439“ in der Vereinsstraße
- 8 Minuten Eimsbüttel: jeder letzter Freitag im Monat im Java House in der Osterstraße
- Schischischo: scheinbar unregelmäßig im
LiteraturhausUebel & Gefährlich, in der warmen Jahreszeit auch gern in Frau Hedis Tanzkaffee - Texperiment: jeden zweiten Mittwoch in jedem zweiten Monat im Golden Pudel Club
- Zwei zu Eins: jeder dritte Dienstag im Monat im Kulturhaus III&70
- Tresenlesen: jeder erste und dritte Mittwoch in der Drei-Zimmer-Wohnung
- Harburger AusLese: jeder letzte Samstag im Monat in der Kulturwerkstatt Harburg e. V.
- Perlen vor die Säue: demnächst im Literaturhaus Hamburg
Die genauen Termine finden sich auf den jeweiligen Internetseiten der Veranstaltungen.
12 Antworten auf „Hörreise durch Hamburg“
Hahaha. Sehr treffend.
Bilder!
Wir wollen Bilder!
Das ist einer der besten Kommentare, den ich in letzter Zeit gelesen habe! Danke für dieses Vergnügen, davon wünsche ich mir noch mehr!
und ich hatte mir fest vorgenommen, noch einmal zu einem 1-er event zu gehen und mich evtl. sogar dem publikum zu stellen… das muss ich dann ja wohl nochmal überdenken… nett geschrieben!
Nicht schlecht.Vor allem der Rechercheaufwand,Respekt!Ich selbst habe es selten über Punkt 1 & 2 hinaus geschafft. Zwei Frage habe ich aber trotz der Vollständigkeit Ihrer Bestandsaufnahme: was ist denn das Wesen einer professionellen Lesereihe(im Gegensatz zu den, unter „semiprofessionell“ geführten, Veranstaltungen in Ihrem Text)? Und gibt es sowas in Hamburg?
@ Herr Paulsen:
Vielen Dank für die freundlichen Worte. Gern will ich versuchen, Ihre Fragen zu beantworten:
Schlagen wir unter dem Stichwort „professionell“ nach, so verrät uns der DUDEN, dass hierunter eine Tätigkeit zu verstehen ist, die beruflich ausgeübt wird. Ein Beruf wiederum ist eine „[erlernte] Arbeit, Tätigkeit, mit der jmd. sein Geld verdient; Erwerbstätigkeit“ (Quelle: DUDEN – Universalwörterbuch). Dies dürfte jedoch den Organisatoren der unter Punkt 2 erwähnten Literaturveranstaltungen, so sehr es ihnen auch zu gönnen wäre, trotz großem Einsatz und viel Leidenschaft eher verwehrt bleiben. Semiprofessionell ist somit sicher nicht die Arbeit und die Zeit, die die Macher investieren, sondern lediglich der hieraus resultierende finanzielle Ertrag.
Eine professionelle Lesereihe ist somit auf die Erzielung eines Gewinns ausgerichtet. Ob dies mit (noch) unbekannteren Autoren, die Veranstaltungen zu Punkt 2) auftreten, erreicht werden kann, ist m. E. fraglich. Bekanntere Autoren (Punkt 3) treten meist im Rahmen eigener Lesereisen, die sie durch das ganze Land führen, auf. Hier kann indes von einer konzeptionell geschlossenen professionellen Reihe also nicht die Rede sein, sondern lediglich von einzelnen Veranstaltungen ohne Zusammenhang.
Fazit: Mit regelmäßigen Literaturveranstaltungen kann man nicht genug Kohle machen, um davon leben zu können. Dies ist jedoch lediglich die Außenansicht eines Beobachters und ich lasse mich hier gern eines Besseren belehren. Sie stecken mehr drin als ich, Herr Paulsen. Wie ist denn Ihre Meinung?
Bis Punkt 1 & 2 habe ich es auch je einmal geschafft. Allerdings nur als Teilnehmer, nicht als Veranstalter.
Vielen Dank für die ausführliche Antwort, bosch. Nein, ein Belehrung folgt sicher nicht, ich dachte nur Sie hätten den Stein der Weisen gefunden und wüssten von einer professinellen Leserveranstaltung. Die hätte ich mir angesehen und gnadenlos abgekupfert! Die Definition von professionell laut Duden, fällt aber für Leseveranstaltungen tatsächlich aus. Geld ist mit dem Veranstalten von Live-Literatur nicht zu verdienen, wirtschaftlich relevant ist nur jedes Jahr das große Zittern um die Fördergelder der Kulturbehörde und die damit verbundene Frage, ob der Eintrittspreis im nächsten Jahr gehalten werden kann. Als Veranstalter finde ich übrigens, dass Sie die angedeuteten Leseveranstaltungen unter 1&2 in Ihrem Text ruhig hätten beim Namen nenne können. Sie haben ja niemanden an die Karre geschifft und alle Erwähnten können Bekanntmachungen jeder Art gebrauchen, das wäre zudem auch ein Zusatznutzen für Ihre Leser gewesen. Denn das ist es, wovon Lesereihen leben: nicht vom großen Geld, sondern vom immer neuen, neugierigen Publikum.
Gern geschehen, Herr Paulsen. Ich drücke die Daumen, dass Ihr Eure Veranstaltung auch in Zukunft weiter erfolgreich durchführen könnt und will mit meinen regelmäßigen Besuchen zum Gelingen ein bißchen beitragen.
Auch wenn mein Blog ja noch in der Startphase ist und nur wenige Besucher verzeichnet, so will ich Ihre Anregung gern aufnehmen und die erwähnten Veranstaltungen beim Namen nennen – schließlich können sie sich alle sehen und hören lassen.
Abgesehen von der Geldfrage käme eine professionelle=kommerzielle Leseveranstaltung der unter 3. beschriebenen Situation ziemlich nahe, und ein junger, interessierter und aufgeklärter Mensch weiß eine Veranstaltung ohne zugewiesene Polstersessel und Mittel- bis Oberstufenlehrer-im-Anzug-Publikum (auch wenn eine solche ab&an durchaus ihren Reiz hat) und dafür mit Bier und/oder selbstgebackenem Kuchen am Feierabend oder Sonntagnachmittag durchaus zu schätzen. Soll heißen: für Poesie-Schläge und Nachwuchsliteraten.
Da bin ich ganz Ihrer Meinung, lady-kinkling, aber sowas von!
Freundchen! Mein Gesamtwerk ist ein bisschen ergiebiger als oben erwähnt! Vielleicht sieht man sich mal wieder.
[…] Abend besuchte ich eine Lesung in einem fensterlosen Raum. Der erste kleine Glücksmoment des Tages trat ein, als der […]