Kleiner Knigge für Offene-Kaffee-Klubs

Der Bildung von Netzwerken dienende Zusammentreffen von Menschen aus Branchen, die früher der sogenannten New Economy zugerechnet wurden, werden mir zunehmend ein Graus. Stellte man sich früher einander noch mit Namen vor, tauschte gar manchmal Visitenkarten aus, so reicht heute vielfach offenbar die Frage „Was machst du?“ als Gesprächseröffnung.

Bevorzugter Treffpunkt ist einmal monatlich die Filiale einer amerikanischen Kaffeekette. Noch bevor man früh am Morgen überhaupt mit jemandem ein Wort gewechselt hat, und bevor man seinen Kaffee in der Hand hält, tritt jemand an einen heran und fragt: „Was machst du?“

Fast könnte man meinen, die Mehrzahl der Anwesenden beschäftigte sich professionell mit Prozessoptimierung. Auch ich bin kein Freund des ausufernden Kleingesprächs, weiß aber ein „Hallo, ich bin der (und der) und mache das (und das). Was machst du denn so?“, durchaus zu schätzen. Diese scheinbar ausufernde Floskel verhindert nicht nur das Rotieren des Freiherrn Knigge in seiner Grabkammer, sondern bringt auch gleich etwas wohlige zwischenmenschliche Wärme in das gerade beginnende Gespräch. Selbst nach dieser Einleitung sollte es jedem möglich sein, zügig zu erkennen, ob das Gegenüber interessant ist, und bei Bedarf den Gesprächspartner — selbstredend mit Verabschiedung — zu wechseln. Alle werden einander so gut in Erinnerung behalten.

Wenn mich das nächste Mal jemand mit den Worten „Was machst Du?“ begrüßt werde, antworte ich einfach wieder: „Guten Tag, ich heiße @bosch [bitte an dieser Stelle Vor- und Zunamen einsetzen; Anm. d. Red.] und warte gerade auf meinen Kaffee.“

Wohne Orte #4

Let’s go home

Freitagnachmittag, die HafenCity ist so gut wie leer. Nicht einmal die obligatorischen Touristenmassen schieben sich heute an den Stahl- und Glaskonstruktionen dieses künstlichen Stadtteils, der wirkt wie sein eigenes Modell im Maßstab 1:1, entlang. Drei nicht zu übersehende Flaggen kündigen eine Ausstellung in einem noch nicht bezogenen Bürogebäude an. Während sich im Gängeviertel, das sich nur wenige hundert Luftlinienmeter entfernt befindet, die Künstler ihren Raum gesucht haben, wird er hier vom Immobilieninvestor bereitgestellt. Doch niemand scheint sich — im Gegensatz zum besetzten Gängeviertel — dafür zu interessieren; wir sind die einzigen Besucher.

„Let’s go home“ lautet der Titel der Gruppenausstellung, die noch bis zum 6. Dezember zu sehen sein wird: Ein von Neonröhren beleuchteter Kahn, ein paar Koffer voller Puppen, Fotografien privilegierter russischer Kinder, ein „Seifenprojekt“, ein Haufen überdimensionierter Streichhölzer, eine matte Discokugel. Das alles und einiges mehr auf einer Fläche von über 800 qm, kuratiert von Charlotte Friling. Bei einer ersten Sichtung der Werksammlung erscheint die thematische Klammer „Zuhause“ keinesfalls offensichtlich; nach einem Blick in den Katalog und ein paar erläuternden Worten ist man etwas klüger.

Ein Besuch schadet nicht, der Eintritt ist kostenlos — und in der HafenCity gibt es ansonsten ohnehin nicht viel Sehenswertes. Dass ausgerechnet an diesem tristen Ort eine Ausstellung mit dem Titel „Let’s go home“ zu sehen ist, erscheint da nur konsequent.

Kneipenmalerei

Zloty und ich (v.r.n.l.)

Mit meinem Freund Zloty sitze ich in einer Kneipe und wir sinnieren über Zeiten, die früher besser waren. Damals wurde vornehmlich Bier aus dem Hahn gezapft, während heute schwerpunktmäßig die Portemonnaies der Gäste angezapft werden. Der Wirt darf das, deswegen sind wir schließlich hier. Aber noch viele andere kommen herein und wollen von unser Zahlungskraft profitieren: manche wollen gegen Bezahlung ein Polaroid-Bild als Andenken an eine unvergessliche Nacht machen (geht gar nicht), viele musizieren (geht manchmal), andere wollen Rosen verkaufen (geht überhaupt nicht) und wieder andere wollen uns ein Printerzeugnis verkaufen, das in jedem Plattenladen kostenlos erhältlich ist (das ist überhaupt das Letzte!).

Heute kommt ein Kneipenmaler. Ich erinnere mich an die Geschichte eines Bekannten aus Bonn, der mir einst von seinem örtlichen Kneipenmaler berichtete. Dieser betrat den Raum stets mit denselben Worten: „Alle mal malen!“. Ließ sich tatsächlich jemand malen, so war das Ergebnis oft ernüchternd, denn die gemalten Personen waren auf den Bildern kaum zu unterscheiden. Vermutlich hat er tausende Menschen gezeichnet — und alle sehen auf seinen Bilder aus wie eineiige Tausendlinge. Dennoch — oder besser gesagt, gerade deshalb — brachte er es in einem begrenzten Kreis zu Ruhm und Ehre. Ihm wurde sogar eine Website mit dem Titel alle-mal-malen.de gewidmet, auf der man die Gleichförmigkeit der gemalten Häupter bestaunen kann.

Zloty und ich ringen etwas mit uns, lassen uns dann aber dennoch auf Papier verewigen. „Ihr seht auch wie Künstler aus“, sagt der Maler, der sich Reggie nennt. Wir zögern, ob wir ihn in unseren Künstlerkreis aufnehmen sollen und warten zunächst das Ergebnis seiner Arbeit ab — schließlich hätte es sein können, dass er seine Kneipenmalerlehre in Bonn absolviert hat, was ihn disqualifiziert hätte. „Was macht ihr?“, fragt er. Zloty ist richtiger Musiker, druckst aber etwas herum. „Aha, ein Musiker.“ Vermutlich sieht Zlotys Mütze auf der Zeichnung deshalb etwas aus wie eine Elvistolle. Ansonsten ist das Abbild aber recht gut gelungen, wie ich finde. „Kopf senken, nicht bewegen“, wir halten uns an die Anweisungen. Reggie schlägt sich tagsüber als Komparse durch, abends zieht er durch die Kneipen der Stadt und malt. An guten Wochenenden ließen sich bis zu zehn Personen von ihm zeichnen, berichtet er. Viele seiner Auftraggeber seien spät nachts allerdings so betrunken, dass sie sich nach Vollendung des Werkes weigerten, dieses auch wie vereinbart zu bezahlen. „Und du so?“ „Ich schreibe jeden Monat einen Roman im Stile Thomas Bernhards. Nach Fertigstellung fotografiere ich die Manuskripte und vernichte sie anschließend. Nie hat jemand auch nur eine Zeile von mir gelesen“, antworte ich, als hätte ich auf diese Frage nie etwas anderes geantwortet. Ich bin froh, dass ich dem Maler nichts von meinem Berufsleben als Berater für irgendwas erzählt habe — der Maler sicher auch. Weniger froh bin ich darüber, dass ich auf dem Bild Hängeaugen wie Derrickdarsteller Horst Tappert in der Endphase habe. Aber es war ja schon spät am Abend; möglicherweise war die Wahrnehmung des Malers bereits etwas gestört — oder die Augen hingen wirklich. Wir geben dem Maler trotzdem 10,— Euro. Er freut sich und wir wünschen uns gegenseitig viel Erfolg für unsere weiteren künstlerischen Werdegänge.

Später auf dem Heimweg treffe ich im Nachtbus einen Mann, der sich ebenfalls vom Kneipenmalers auf Papier bannen ließ. Sein Antlitz unterschied sich auf der Zeichnung deutlich von den unsrigen, jedoch  wies die Augenpartie eine unübersehbare Ähnlichkeit zu der meinigen auf. Entsprächen die gezeichneten Augen auch nur annähernd der Realität, müssten wir uns jetzt von Harry im Dienstwagen nachhause chauffieren lassen und säßen nicht in einem Omnibus.

Der Hamburger Maler macht seinen Job doch eigentlich ganz ordentlich, dachte ich. Nur auf den Augenkurs in Bonn hätte er verzichten können.