Regula und Roderich sind seit nun fast dreißig Jahren ein Herz und eine Seele. Sie teilen Tisch, Bett und Roderichs bescheidenes Einkommen aus seinem Minijob. Als sie sich gestern wieder einmal unerlaubterweise ihre Fahrkarte für den öffentlichen Personennahverkehr teilen wollten, trauten sie ihren Augen nicht: „Geben Sie der Elbphilharmonie Ihren Namen“ stand groß auf dem Plakat an der U-Bahn-Haltestelle geschrieben.
Als Kinder wurden sie noch für ihre merkwüridig anmutenden Vornamen von ihren Altersgenossen verspottet, das schweißte sie aber nur noch mehr zusammen. Nur jetzt, nach so vielen Jahren, drohte der erste große Zwist: sie konnten sich einfach nicht darauf einigen, wer von ihnen der Elbphilharmonie seinen Namen geben sollte.
Das Bauprojekt ist politisch gewollt, es ist ein „Leuchtturmprojekt für die Metropolregion Hamburg“, sagen die Politiker. Für Regula und Roderich war der geplante Konzertsaal bislang nichts weiter als ein bißchen Glas auf einer alten Lagerhalle, doch nun sollte alles anders werden.
Im Jahr 2011 oder 2012 soll die Konzerthalle fertiggestellt sein, doch wie soll sie heißen: Regula oder Roderich?
Bücher Heymann am Eppendorfer Baum, Hamburg, am 24.05.2008
Siegfried Lenz hat eine neue Novelle geschrieben, sie heißt Schweigeminute. Auch Warteschlange wäre ein schöner Titel gewesen, wenn er geahnt hätte, welchen Massenansturm die von einer Eppendorfer Buchhandlung organisierte Signierstunde auslöste.
Halb Hamburg, zumindest die Hälfte derer, die regelmäßig zum Buch greifen, war erschienen, um sich ein Exemplar vom Autor unterzeichnen zu lassen. Mehr als eine Stunde lang bewegte sich die Warteschlange lediglich einen knappen Meter vorwärts, was die Vermutung aufkommen ließ, dass einige Bildungsbürger dieses Ereignis nutzten, um sich gleich ihre gesamte Bibliothek widmen und signieren zu lassen. Ältere vorbeiziehende Passanten stellten beim Anblick der großen Anzahl an Wartenden spornstreichs Vergleiche mit der mageren Nachkriegszeit an, andere verwiesen auf Verhältnisse in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.
Nicht selten frug jemand verwirrt nach dem Grund dieses ungewohnten Menschenauflaufs, obgleich nicht zu übersehende Plakate und Werbetafeln die Autogrammstunde des Schriftstellers ankündigten. Der Mann vor mir, offensichtlich ein subversiver Charakter, gab einige Male bereitwillig Auskunft, bevor er dazu überging, zu antworten, dass Dieter Bohlen eine gerade seine neu verfasste Biographie signiere. Ich fand Gefallen an der systematischen Desinformation und behauptete fortan auf Nachfrage, es sei ein neuer Harry-Potter-Band erschienen – Harry Potter und die Auferstehung von den Toten. Einige Auskünfte später taten wir uns zusammen und antworteten im Chor, dass Harry Potter gerade die neue Dieter-Bohlen-Biographie läse und sie drinnen gemeinsam eine Signierstunde abhielten. Vielleicht wären wir Freunde geworden, wenn wir noch länger gemeinsam unsere Wartzeit verbracht hätten.
Angestellte der Buchhandlung Heymann begannen damit, Trinkwasser auszuschenken, um den ersten Dehydrierungserscheinungen entgegenzuwirken, und Schokolade an die quengelnden Kinder zu verteilen, um diese ein wenig ruhig zu stellen. Beide Maßnahmen zeigten auch bei mir Erfolg: ich bin nicht verdurstet und mein Gemütszustand hat sich stabilisiert. Nach einer weiteren halben Stunde des Ausharrens in der Warteschlange allerdings erkannte ich die latente Gefahr eines Zuckerschocks und verweigerte fortan die weitere Annahme von Schokoladentäfelchen. Der Gedanke an die Gesamtbibliothekssignierung wurde zwischenzeitlich von der Vermutung abgelöst, dass der Hamburger Ehrenbürger seine neue Novelle zunächst noch schreiben müsse, bevor er diese auch signieren könne – doch plötzlich ging alles sehr rasant:
Eine Mitarbeiterin des Buchladens dankte mir für meine Geduld, entriss mir mein Buch, kennzeichnete mittels Einlage des Schutzumschlages die für die Unterschrift vorgesehene Seite, schob mich dann, nicht ohne mich zu ermahnen, dass angesichts der fortgeschrittenen Zeit keine Gelegenheit mehr für persönliche Widmungen sei, in Richtung des Autorentisches.
Siegfried Lenz signiert seine neueste Novelle Schweigeminute
Nach fast anderthalb Stunden des Wartens saß mir gegenüber nun ein geduldiger, aber sichtlich erschöpfter Siegfried Lenz, der nun mit zittriger Hand meine Erstausgabe signierte. Gern hätte ich ihm bei dieser Gelegenheit für seine zahlreichen, in unaufgeregtem Erzählton verfassten, wunderbaren Bücher gedankt; für die Deutschstunde genauso wie für das Heimatmuseum, Die Klangprobe, Der Verlust, aber auch für seine neueren Werke wie Arnes Nachlaß oder das Fundbüro und die vielen anderen. Er unterzeichnete, nickte mir freundlich zu, ich sagte Danke und nach wenigen Sekunden war unsere Begegnung vorüber.
Niedere Instinkte trieben mich heute in verschiedene Buchhandlungen. Obwohl das Objekt der Begierde intimste Inneneinsichten verhieß, war es allenthalben eingeschweißt in Plastikfolie zu bewundern. Über das Motiv der vom Handel gewählten Präsentationsform kann an dieser Stelle lediglich gemutmaßt werden. Der Sumpf meiner Phantasie ist vorerst trockengelegt.
Wer lädt schon gern einen ehemaligen Grundschullehrer mit explodiertem Lockenkopf und Pumphosen in sein Wohnzimmer ein? Zudem auch noch einen, der nichts anderes tut, als dümmliche Witzchen abzusondern und seine Couchnachbarinnen zu begrabbeln?
Immerhin zehn Millionen Zuschauer fanden sich gestern Abend wieder, die gebannt vor der Mattscheibe auf eine neue Variation der allseits beliebten Baggerwette warteten: mit dem Bagger ein Feuerzeug anmachen, mit dem Bagger eine Bierflasche öffnen, mit dem Bagger eine Frau ausziehen, mit dem Bagger in der Nase bohren …
Neue Baggerwetten braucht das Land, denke ich mir und formuliere in meinem Kopf schon einmal ein paar neue Saalwetten:
Wetten, dass Uri Geller es schafft, einen zuvor durch die Kraft seiner Gedanken verbogenen Löffel mit Hilfe eines Bagger wieder zu begradigen und anschließend mit dem an die Schaufel des Baggers angebrachten Löffel aus einer Buchstabensuppe die passenden Buchstaben für den Satz „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ fischt?
Wetten, dass Bruce Darnell es schafft, mit einer an die Schaufel eines Baggers angebrachte Tätowiernadel eine Kandidatin seiner Show zu verschönern, indem er ihr die Worte „Drama, Baby“ in den Oberarm „der lebendige Handtasche“ tätowiert?
Wetten, dass Prof. Peter Dunemann, der geschäftsführende Direktor des Hygiene-Instituts des Ruhrgebietes, es schafft, mit einem Bagger Charlotte Roche die Achseln zu rasieren und sie anschließend mit einem Waschlappen zu waschen?
Erst wenn diese Wetten wahr werden, werdet Ihr sehen, dass „Wetten, dass…?“ in der deutschen Fernsehlandschaft unersetzlich ist. Spiegel Online findet schon heute alles halb so schlimm, ich indes halte es mehr mit Peter Lustig, der schon früher zum Abschalten riet.
Die Feuchtgebiete des DuMont Verlages auf franziskript.de:
Die Gesammelten Charlotte-Roche-Interviews zu den Themen
“Pornografie”, “Analsex” und “Selbstbefriedigung”
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