Zwanzig Jahre nach L’etat et moitouren Blumfeld wieder in Originalbesetzung. Irgendeinen Grund findet man immer für eine Wiedervereinigung, und sei es nur die Knappheit der Musikantenkassen. Kein neues Album der längst aufgelösten Band, kein Lyrikband von Jochen Distelmeyer, keine Lehrstuhlberufung von PD Eike Bohlken und keinen Schlagzeugunterricht von Andre Rattay. Einfach mal den in Nostalgie schwelgenden Konzertbesucher abmelken.
Eigentlich sollten Blumfeld nach ihrem Abschiedskonzert am 27. Mai 2007 Geschichte gewesen sein und nun stehen sie bald wieder da, verdruckst am Bühnenrand wie auf einem Klassentreffen der Hamburger Schule, und haben nichts mehr zu erzählen, weil man sich doch auseinander gelebt hat. Jochen Distelmeyer begrüßt die schunkelnden älteren Junggesellen im Publikum mit dem Üblichen kokettierenden „Hallo, wir sind Blumfeld“, Eike Bohlken hat in der vorlesungsfreien Zeit artig die Bassline vom Apfelmann gelernt und Andre Rattay ist längst ein gewöhnlicher Gentleman geworden. Vielleicht singen ihre Kinder mittlerweile gemeinsam den Chor-Part von Superstarfighter.
Hätte man via Crowdfunding die Reunion verhindern können, um allen Beteiligten Peinlichkeiten zu ersparen, ich hätte ohne zu zögern meine Geldbörse gelockert. „Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg.“ Rückkopplung. Immer wieder Übergang zu Cole Porter – ev’ry time we say hello, I die a little.
Aber wer weiß, vielleicht wird auch alles gut: „Rock’n’Roll hat meinem Leben einen neuen Sinn gegeben, den Faden wieder aufzunehmen.“ Ich habe nichts gegen Musiker als solche, meine besten Freunde sind welche.
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Tourdaten
27.08. Köln – Live Music Hall
28.08. Frankfurt – Batschkapp
29.08. München – Theaterfabrik
30.08. A-Wien – Arena
11.09. Münster – Skaters Palace
12.09. Hamburg – Markthalle
13.09. Berlin – Astra
VVK-Start: 19.05.2014
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Update: Ach, Jochen Distelmeyer veröffentlicht naturgemäß doch ein Buch. Allerdings keinen Lyrikband.
Vorfreude ist immer das Schönste, sagt der Volksmund. Das stimmt nicht, wie das meiste naturgemäß nicht stimmt, was der Volksmund so sagt, sage ich. Jedes Mal, wenn ein neues Tocotronic-Album erscheint, habe ich vor allem Angst. Keine Meisterwerke mehr. Dann darf man das nicht lesen, all die Geschichten über anologe Te-Le-Fun-Ken-Vier-Spur-Ton-Band-Ma-Schi-Nen usw. Gebt der spexigen Musikjournaille und dem FAZ-Feuilleton ein paar Wochen vor dem VÖ-Datum etwas psychoakustisches Geschwurbel mit auf den Weg und füttert sie mit Geschichten von der Anmut der Theremin-Spielerin aus New York, die die neuen Lieder mit ihrem berührungslosen Instrument klanglich veredelt hat. Mit Digital ist besser waren billige Casio-Uhren gemeint, keine Tonträger, und trotzdem kann die Generation MP3-Player den ganzen neuen Spuk auf ihren datenkomprimierten Dateien gar nicht mehr wahrnehmen.
Ich möcht‘ kein Lo-Fi-Spießer sein, hieß es früher. Heute lustwandelt Dirk von Lowtzow mit Theatermann René Pollesch für den Kultursender Arte durch die Nacht und zeigt ihm die gemütliche Küche seines Tonstudios oder steht mit verklärtem Blick neben Thies Mynthers Konzertflügel, um mit dem Nebenprojekt Phantom/Ghost manierierten Kammerpop zu produzieren. Ich verachte Euch für Eure Kleinkunst zutiefst. Unterdessen hat Dirk graue Haare bekommen und die Trainingsjacke durch ein frisch gebügeltes weißes Oberhemd ersetzt. Aber eines mit gestärktem Kragen. Gab es in der Hamburger Schule noch Bier als Pausenbrot, trinkt man heute bevorzugt französische Schaumweinprodukte in Berliner Elite-Universitäten. Als mich vor gut einem Jahrzehnt eine Freundin betrunken vor dem Golden Pudel Club als arriviert bezeichnet hat, konnte sie nicht ahnen, was irgendwann aus Dirk werden würde. Und so steht es längst im Duden unter „arriviert“: Dirk von L., einst Teil einer Jugendbewegung, heute angekommen in der Selbstzufriedenheit. Der Vergleich ist eher schief als eben.
Vor der jüngsten Veröffentlichung gab es 99 getwitterte Thesen, in denen wir erfahren dürfen, dass Dirks sexuelle Präferenz „plüschophil“ ist, und Interviews, in denen er sich dazu bekennt, an Autobahnraststätten Plüschtiere gegen Münzeinwurf mit Greifarmen aus Glaskästen zu befreien. „Wie wir Leben wollen“, heißt das neue Album. Die Frage nach dem Ob oder dem Warum stellt man längst nicht mehr. Gleich zu Beginn des 10. Albums säuselt es uns „Hey jetzt bin ich alt. Hey, bald bin ich kalt“, entgegen, während der mittlerweile 66jährige David Bowie nur wenige Wochen später sein ohne großes PR-Tamtam veröffentlichtes Album mit den Worten „Here I am, not quite dying“, aufschlägt. Wozu noch 99 Thesen, wenn das Erkalten schon zu fühlen ist? Ach, Dirk. Ich mag Dich einfach nicht mehr so.
Aber wann hat es eigentlich angefangen, dass wir nicht mehr nebeneinander auf dem Teppichboden sitzen? Als ich Tocotronic 1994 das erste Mal im Hamburger Kleinclub Logo für eine handvoll D-Mark gemeinsam mit etwa fünfzig anderen Leuten hörte, ahnte ich noch nicht, dass ich irgendwann mit Menschen meiner Generation ganze Konversationen in Tocotronic-Zitaten führen könnte. Zu Zeilen wie „Gitarrenhändler, Ihr seid Schweine, Gitarrenhändler, ich verachte Euch zutiefst“ habe ich mehr Abwandlungen entwickelt als Bach zu seinen Goldberg-Variationen. Wenn ich nicht wusste, wie ich einem Mädchen meine Zuneigung gestehen sollte, sagte ich ihr „Du bist der Jackpot meines Lebens“ und selbst heute mache ich mir gelegentlich den Spaß, in geschäftliche Zusammenkünfte ein lakonisches „die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ zu schmuggeln. Noch immer vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht frage, ob die Leute auf der Straße eigentlich absichtlich so langsam gehen, oder wie das Unglück zurückgeschlagen werden muss. Kein Song kam ohne „Hammerzeile“ (vgl. Robert Gernhardt, Essener Poetikvorlesungen, 2002) aus.
2002 erschien das Album „Tocotronic“, das sogenannte weiße Album. Zwar musste noch alles im Überfluss vorhanden sein, aber irgendwie wurde es plötzlich metaphorischer. Schatten werfen keine Schatten usw. 2005 dann „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Als das Video zu „Aber hier leben, nein danke“ in der Hamburger Parkanlage Planten un Blomen gedreht wurde, war es so unwirtlich nass und kalt, dass ich vor Beginn der Aufnahmen den Ort des Geschehens verließ. Auch Eine Suppe aus der Gulaschkanone und ein Bier aus der Flasche konnten mich nicht zum Bleiben bewegen. Alle meine Freunde, die die Drehprozedur über sich haben ergehen lassen, und begeistert zur Single-Auskopplung gehüpft und getanzt haben, wurden später herausgeschnitten. Am 15. März 2005 habe ich die Band zum letzten Mal live gesehen. Ich saß auf der Galerie und war etwas verstört angesichts der stagedivenden Jugendlichen, die zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Digital ist besser“ gerade einmal den Hamburger Kindergarten besuchten. Ich war ganz schön bedient.
Dann „Kapitulation“, das schönste Wort in deutscher Sprache, wie es im mitgelieferten Manifest hieß. Noch immer erwarb ich brav die limitierte Edition des Albums. Als das dazugehörige Band-T-Shirt (vorn „Kapitulation“ grün auf schwarz, hinten VÖ-Datum, irgendwann 2007) allerdings nach einmaligem Waschen einlief, wanderte es umgehend in die Altkleidersammlung. Sag alles ab, geh einfach weg.
Und während die ehemaligen Mitschüler Blumfeld von sperrigen Titel „Von der Unmöglichkeit nein zu sagen, ohne sich umzubringen“ hin zur Aufzählung von Apfelsorten meine Generation degenerierten, machten sich Tocotronic auf den entgegensetzten Weg. Plötzlich war es nicht mehr einfach Rockmusik. Einhergehend mit der lyrischen Verschwurbelung wurde musikalisch aus dem Geschrammel der Anfangsjahre ein zunehmend symphonisches Werk. Ich weiß nicht, wie konnte das geheschen. Die Welt kann mich nicht mehr verstehen. Blumfeld lösten sich 2007 auf („Kein Lied mehr“), konsequent, dachte ich. Toctronic machen weiter, wie alles immer weiter macht. 2010: „Schall und Wahn“, noch einmal eine Limited Edition gekauft, ein bißchen oszilliert, Shakespeare und Faulkner referenziert und was von dieser Platte blieb, ist vor allem der das Cover zierende Blumenstrauß, während die Textzeilen längst verwelkt sind.
Aber ich bin nicht nur gekommen, um mich zu beschweren. Tocotronic haben sich als Band weiterentwickelt. Und das ist gut. Sie werden nicht wie die Rollenden Steine auch als Greise in zwanzig Jahren noch dieselbe lächerliche Bühnenshow abziehen wie sie es vierzig Jahre zuvor getan haben. Tocotronic waren eine der ersten Bands, die anspruchsvolle Musik mit deutschsprachen Texten verbanden und sie werden unpeinlich bleiben. (Weder das eine noch das anderen ist ihren Vorgängern der Neuen Deutschen Welle gelungen.) Was macht es schon, wenn der eine oder andere Fan aus alten Tagen auf der Strecke gebleiben ist? Gott sei dank haben wir beide uns gehabt. Schließlich sind viele neue Anhänger dazugekommen. Auch wenn mir die vielleicht Begeisterung früherer Jahre fehlt, so verfolge ich das tocotronische Schaffen noch immer mit dem größten Interesse. Ich kaufe keine limited Editions mehr, ärgere mich aber trotzdem, wenn iTunes am Veröffentlichungstag um 0 Uhr nicht den Download zur Verfügung stellt. Ich will nicht sein wie meine Eltern, die noch heute der Beatles „She Loves You“ noch immer für eine größere Errungenschaft halten als das Weiße Album. Im Blick zurück entstehen die Dinge. Vielleicht werden wir in einigen Jahrzehnten das Spätwerk auch mehr schätzen als die frühen Alben? Ich werde auch künftig vor jedem neuen Toctronic-Album Angst haben und mich auch ein bißchen darauf freuen. Die neuen Lieder können keine alten Freunde werden, aber noch immer gute Bekannte. Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen. Und ich glaub nicht daran, dass ich jetzt noch mal umkehren kann.
Auf einmal hast Du gesagt,
Du verläßt diese Stadt.
Das Leben hier
Hat Dich nur noch müde gemacht.
Du warst noch nie da,
Wo Deine Träume spielen
Und Du weißt auch gar nicht,
Wo das ist,
Doch Du weißt:
Hier ist es nicht.
Ist das alles, was das Leben fragt?
Ist das alles, was das Leben fragt:
Kommst Du mit in den Alltag?
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