Cappuccino

„Das Schönste an München ist
der Rückflug nach Hamburg.“

(Helmut Schmidt)

Plötzlich sitzt man nicht mehr in seinem geliebten französischen Café in Hamburg-Winterhude, sondern steht in einer italienischen Bar in Berlin-Kreuzberg. Hier wie da blättere ich in der Zeitung und erfreue mich auf Seite drei an einer Reportage über den Hamburger Schriftsteller Uwe Timm, in dessen bekannter Novelle einst zufällig die Currywurst entdeckt wurde.

Der Schriftsteller berichtet von seiner Hassliebe zur Hansestadt, die mit ihrer bürgerlichen Großkotzigkeit immer mehr Metropole sein möchte, als sie tatsächlich ist, und seiner Zuneigung zu München, wo immerzu die Sonne scheint. Berlin hingegen ist einfach nur da – egal.

Ich schlürfe an meinem noch heißen Cappuccino, beiße in mein üppig mit Schinken und Käse belgtes Panino und lächle ein in mich gekehrtes Lächeln. Ich blicke aus dem Fenster, hänge ein wenig den Gedanken nach und zahle passend. Ciao. Tschüs.

Die kleinste Zelle von Heimat

Die kleinste Zelle eines Wortes ist ein Buchstabe. Die kleinste Zelle von Musik ist ein Ton. Die kleinste Zelle von Stammheim ist die Nummer 7 (oder Nummer 8). Was aber ist die kleinste Zelle von Heimat?

Planet Erde, Europa, Deutschland, Hamburg oder Berlin, Winterhude oder Prenzlauer Berg, eine Straße, ein Café, ein Sofa. Was ist die kleinste Zelle von Heimat? Ich begebe mich auf die Suche nach ihr. Zunächst das Naheliegende: Suchanfrage im Internet. Kein Ergebnis. Kann es etwas geben, das es nicht auf Google gibt? Die Maschine schlägt vor: „Die kleinste Zelle im Menschlichen Körper.“ Ich will keinen Körper, ich will Heimat.

Tage später, Hamburg, 12.17 Uhr. Es klingelt an der Tür. Seit über drei Stunden warte ich darauf, dass es klingelt. Endlich ist es so weit: der Heizungsableser ist da. Heimat ist da, wo man auf den Heizungsableser wartet, denke ich. Aber sofort schießt es mir in den Kopf, dass das Quatsch ist, denn weder ein Ort, an dem man auf einen Menschen wartet, der einen unverständlichen Wert von kleinen Röhrchen an Heizkörpern abliest, noch den Ableser selbst würde man vermissen, wenn man sich an einem ganz anderen Ort befände. Und Heimat ist doch etwas, das man vermisst, wenn man gerade ganz woanders ist. Also frage ich den Heizungsableser: „Was ist Heimat? Also nicht so global, sondern eher: Was ist die kleinste Zelle von Heimat?“ Er schüttelt mit dem Kopf und sagt: nichts. Warum habe ich auch ausgerechnet den Ableser gefragt, frage ich mich nun. Vermutlich hätte er etwas sagen können wie „Heimat ist da, wo man die Heizung anstellt, wenn einem kalt wird“, oder so ähnlich. Stattdessen gibt er mir den Ratschlag, doch einfach mal im Internet zu recherchieren.

Wochen später, Zwischenstop im Café: Vertraute Gesichter, die bewährte Tageszeitung, Cappuccino. Es ist eine Art Offline-Social-Network, ganz ohne lästige Kontaktanfragen von Leuten, die man nicht kennt und auch nicht kennenlernen will, oder Hinweise darauf, was irgendwem gefällt. Es ist gut hier, denke ich, während ich auf meinem roten Lieblingssofa sitze und ein Stück Käsekuchen genieße.

Stunden später Berlin, am selben Abend, Hauptbahnhof: Sushi, Burger, Krautsalat im Roggenbrötchen, Naturkosmetik, Drogeriemarkt, Fotoladen, WC-Center; an den Bahnsteigen: Wartende, Abschiede, Begrüßungen. Manche steigen in den Zug, andere werfen sich vor ihn. Lautsprecherdurchsagen, Werbeplakate, Coffe-to-Go, Schließfächer, Bahnhofsmission, Friseur, Rollschuhe verboten, Autovermietung, Stadtrundfahrt. Seit Wochen beschäftigt mich die Frage nach der kleinsten Zelle von Heimat, DkZvH, wie ich sie mittlerweile liebevoll nenne, seitdem mich die Macher dieses Magazins darum gebeten haben, darüber einen kleinen Beitrag zu verfassen.

Kann Berlin eine Heimat sein, wenn schon der Hauptbahnhof so unübersichtlich ist? Die kühle Architektur, die Hektik, das Stimmengewirr laden zur Umkehr nach Hamburg ein, aber dort ist es am Bahnhof genau so, nur etwas kleiner. Aber muss man an Heimat alles uneingeschränkt lieben?An Hamburg mag man den Hafen und die Elbe. Aber was ist mit Mümmelmannsberg und der Elbphilharmonie? An St. Pauli mag man den Charme des etwas Heruntergekommenen, Astra aus der Flasche und vielleicht auch noch den Fußballverein. Aber was ist mit den besoffenen Touristen und der Hundescheiße auf der Straße? Und Berlin? So schlecht ist es nicht, wie alle in Hamburg immer sagen.

Die Suche geht weiter: Die kleinste Zelle von Heimat, das ist ein Ort, an dem man doch vielleicht alles uneingeschränkt mögen kann. Ich begebe mich noch einmal ins Internet. In das Feld der Suchmaschine gebe ich jetzt nur das Wort „Heimat“ ein: Heimat ist eine Werbeagentur, verrät mir die Suchmaschine und zweifle, ob „Heimat“ wirklich eine Heimat ist. Ich schlage in der Wikipedia nach: „Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum […] Mit dem Wort „Heimat“ können somit nicht nur konkrete Orte (die Heimstätte eines Menschen), sondern ganz allgemein auch reale oder vorgestellte Objekte und Menschen bezeichnet werden, mit denen Menschen sich identifizieren und die sie positiv bewerten.“

Ich versuche, mir ein vorgestelltes Objekt vorzustellen, das ich positiv bewerte: ein Wiener Schnitzel – groß wie ein Teller, dünn wie ein Pfannkuchen, knusprig dünn paniert, innen saftig. Aber was ist mit der Identifikation? Identifikation ist auch das Einfühlen in eine andere Person. Selbst unter der Annahme, dass ein Schnitzel eine Person wäre, möchte ich mich nicht mit einem Schnitzel identifizieren. Nicht einmal mit der Vorstufe des glücklich auf einer grünen Weide grasenden Bio-Kalbes. Ein Schnitzel ist also keine Heimat und somit beinhaltet es auch nicht DkZvH.

Ziemlich genau sechs Wochen hatte ich Zeit für diesen Text, in weniger als zwei Stunden muss ich ihn abgeben. Was DkZvH ist, weiß ich noch immer nicht. Ich beginne zu verzweifeln, verwerfe alle Genken über Suchmaschinen, Bahnhöfe, Werbeagenturen, Identifikation und Fleischgerichte und tippe in meinen Rechner: Die kleinste Zelle von Heimat ist das bequeme Sofa, auf dem ich gerade sitze.

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Dieser Beitrag wurde im Mai 2010 im stijlroyal Heimatmagazin #13 veröffentlich. Es erschien unter anderem in den limitierten Sondereditionen „Zenzi“, „bosch“ und „Café du passage“.

Was vom Winter übrig bleibt

Eisig und weiß liegt die Flur,
es wird Nacht und es schweigt die Natur,
ein Anblick so vertraut,
noch einmal und es taut
der Schnee

(Blumfeld)

Hamburg: 4 Grad. Zehn Tage war ich nicht in der Stadt. Es ist nun wahrlich nicht so, dass plötzlich der Frühling ausgebrochen wäre, aber es taut doch merklich. Noch immer muss man Obacht geben, nicht auszurutschen. Wer jetzt hinfällt, wird unangenehm nass — da ist ein blauer Fleck noch das kleinere Übel.

In Berlin habe ich unter der Dusche immer Radio gehört. Radio höre ich sonst nie. Man hört dort Musik, die man gar nicht hören will, und erfährt dort Dinge, die man gar nicht wissen will. Vorgestern habe ich erfahren, dass jemand das Gewicht des in der Hauptstadt liegenden Schnees in Elefanten umgerechnet hat — um sich das besser vorstellen zu können: vier Milliarden Elefanten (vielleicht waren es auch nur vier Millionen). Eine tolle Einheit ist das, jetzt kann ich mir alles viel gleich viel besser vorstellen und frage mich, warum die Schneemenge nicht in Fußballfelder umgerechnet wurde. Wo doch sonst immer alles in Fußballfelder umgerechnet wird. Aber auch in Berlin wird der Schnee irgendwann schmelzen und ich bin gespannt, in welche Einheit man dann die dabei freigesetzte Menge an Flüssigkeit umrechnen wird. Milchseen oder Champagner-Doppel-Magnum-Flaschen wären eine probate Maßeinheit. Fußballfelder sind doch zu zweidimensional; schade eigentlich.

In Hamburg höre ich kein Radio unter der Dusche. Hier hat sich nichts verändert. Das Sofa im Café steht noch immer im Keller. Der Schnee schmilzt.

Ex-Sofa (Platz 12)

Drei Tage war ich weg und nun das. Nicht nur, dass die mir verhassten IKEA-Haferkekse heimlich wieder eingeführt wurden; auf dem Platz, an dem einst mein geliebtes Sofa stand, das natürlich nicht mein Sofa war, weil es auch nicht mein Café ist, obwohl ich es gern als solches bezeichne, steht nun ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen.

Mehr Sitzgelegenheiten für Frühstücker sind zwar unter ökonomischen Gesichtspunkten durchaus erstrebenswert, aber Platz 12 ist nun für mich sozusagen „durch“. Wo soll ich denn hin, wenn auf der 2 die Weizenbiertrinker sitzen und Platz 7 vom bastelnden oder buchhaltenden Zauberer okupiert werden? Wo bleibt der Charme des roten Ledersofas frage ich, während mir der Cafébetreiber rät, es doch im Keller, auf dem Gang vor den sanitären Örtlichkeiten, zu besuchen.

Nächste Woche werde ich Unterschriften sammeln — damit das Sofa wieder auf die 12 kommt. Falls das nicht hilft, trete ich in den Sitzstreik (auf dem ehemaligen Lieblingssofa vor der Toilette).