Kartoffelmaschine

Sigmar Polke; Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann; 1969

Während in Berlin in dieser Woche der Kunstbär steppt, holt man in Hamburg die alten Schinken aus dem Keller. 15 Jahre steht der Kubus der Galerie der Gegenwart nun neben dem Hauptbahnhof und was läge näher, als in 15 Räumen 15 Künstler aus der eigenen Sammlung zu präsentieren? Warhol, Baselitz, Richter, all das hat man schon oft gesehen, und während ich etwas gelangweilt Raum um Raum durchschreite, bleibe ich plötzlich an einer Installation hängen, die mich wie keine andere zu erfreuen vermag.

Es ist ein Apparat, aber freilich kein bösartiger wie in Kafkas Strafkolonie, sondern ein freundlich sinnloses Ding: Sigmar Polkes „Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann“ besteht aus einem modifizierten Holzstuhl, einer Metallstange, einem Gummiband, einem Motor und zwei auswechselbaren Kartoffeln. Gewöhnlich tut diese Installation genau das, was ihr Name verspricht. Da mich, anders als bei den anderen gezeigten Kunstwerken, kein Warnschild von der Aktivierung des Apparates abhält, betätige ich voller kindlicher Freude den Knopf, um die eine Kartoffel um die andere Kreisen zu lassen. Was dann passiert: Nichts. Der Motor röhrt ein wenig, sodann eilt ein Mitarbeiter des Wachpersonals herbei, um mich aufzuklären, dass es verboten sei, den Knopf zu drücken und dass der kartoffelantreibende Riemen defekt sei. Ob eine Instandsetzung geplant sei, wisse man nicht. Ich bedaure dies, denn eine kreisende Kartoffel hätte mir sicher diesen tristen Herbsttag versüßen können.

Und so bleibt mir nichts anderes, als immer und immer wieder das Video der funktionierenden Installation anzuschauen und zu hoffen, dass eine Dame aus dem Freundeskreis der Hamburger Kunsthalle ihr Haargummi für einen wirklich guten Zweck spenden möge.

Hamburger Kunsthalle: Lost Places

Alexandra Ranner, Schlafzimmer 2
Alexandra Ranner, Schlafzimmer II/08, 2009

Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart. Zwei Etagen „Alice im Wunderland“: Tate Liverpool bringt die perfekte Langeweile in die Hansesestadt, Kaninchen und Dalí, man kent das alles. Interessant wird es im Untergeschoss: „Lost Places“, „20 Positionen zeitgenössischer Photographie und Videokunst“, wie der Katalog verlautbart. Immer wunderbar zu sehen: die Fotografien von Joel Sternfeld, aber auch die Videoinstallation „Nostalgia“ von Omer Fast, der die Geschichte illegaler Auswanderer aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Etwas lieblos hineinkuratiert wird die Düsseldorfer Schule: die Bechers, Gursky, Ruff etc., man braucht ein paar große Namen für die Plakate an den Bahnhöfen, damit die Besucher ins Museum strömen usw.

All das wäre gar nicht nötig, denn eigentlich bräuchte es in diesem Kubus nur die eine Installation von Alexandra Ranner, die mich gleich zwei Mal innerhalb von einer Woche das Museum aufsuchen ließ:

„Schlafzimmer II/08“, 2009 – die perfekte Illusion. Von innen tönt lautstark ein Alarmsignal, ich zögere, den von außen weiß gestrichenen Raum zu betreten. Innen herrscht schummriges Licht. Im Raum: auf der einen Seite ein Schlafzimmer – Bett, Fenster und Fernseher, kein Ton. Auf der anderen Seite stehe ich und zwei weitere Besucher. Zwischen Schlafzimmer und Besuchern: Ein Spiegel, der einer sein könnte, Atmosphäre. Nichts passiert, Ratlosigkeit. Der Spiegel ist Nichts, ist Illusion. Kein Kunsthistoriker, der sich berufen fühlt, kann das, was in diesem Raum ist, und gleichzeitig nicht ist, beschreiben. Man kann es nicht sehen, man muss es erleben. Zaghaft bewege ich meine Hand dorthin, wo ich den Spiegel vermute, ein lautstarkes Warnsignal ertönt, ich schrecke zurück. Eine Dame vom Aufsichtspersonal ermutigt mich, durch den nicht vorhandenen Spiegel in das Schlafzimmer zu treten, das Warnsignal wird noch deutlicher. Ich bin drin; das Bett, die Decke, beide sind aus Gips. Es ist dunkel, es ist laut. Enervierend tönt das Alarmsignal. Auf der einen Seite des Raumes bin ich, auf der anderen Seite befinden sich die anderen Besucher – wir spiegeln einander nicht. Es ist bedrückend und faszinierend zugleich.

Eine Woche später suche ich das Schlafzimmer erneut auf, wieder bin ich mit zwei anderen Besuchern auf der sicheren, lautlosen Seite des Raumes. Wir warten, ich beobachte die anderen, nichts passiert. Dieses Mal habe ich noch mehr Freude daran, die Wirkung des Raumes auf die anderen zu beobachten. Die Ratlosigkeit in ihren Gesichtern war die Größte. Dann fasse ich Mut und gehe durch den nicht vorhandenen Spiegel. Plötzlich kommt eine andere Museumswärterin herein und herrscht mich an, nicht „hineinzuspringen“. Ich weiß nicht, ob sie die andere Seite des Raumes oder das Bett aus Gips meint, die Situation ist nun noch beklemmender. Ich verlasse die Installation ratlos. Ist sie begehbar oder bin ich ein Vandale? Möglicherweise werde ich es nie erfahren.

Der geteilte Pimmel

Gerhard Richter – Panorama, Neue Nationalgalerie

Neue Nationalgalerie, Berlin-Tiergarten. Das Werk Gerhard Richters wird gezeigt: Panorama. Vor dem Mies-van-Rohe-Bau keine Warteschlange. Doch der Schein trügt. Sie befindet sich im Erdgeschsoss des Gebäudes. Der Ausstellungsbesuch wird zum Happening. Menschen warten geduldig und freuen sich insgeheim darüber. Sie sind Teil einer Kulturbewegung – obwohl sich nur wenig bewegt. Ich warte darauf, dass die Ersten ihre Klappstühle, die sie auch bei Autobahnstaus auf die Schnellstraße zu stellen pflegen, herausholen. Das tut aber niemand. Nach über einer halben Stunde des Anstehens darf man ein Ticket lösen. Zwei Zweitklässler werden von ihren Eltern in die Ausstellung gezerrt, irgendwo entdecken sie den Titel der parallel laufenden Ausstellung Der geteilte Himmel. „Der geteilte Pimmel, der geteilte Pimmel“, rufen sie und amüsieren sich, die dazugehörigen Bildungsbürgerelter blicken indigniert. Richter ist auch Tourismusfaktor. Man merkt es daran, dass der Herr an der Garderobe gut gelaunt ist und freundlich viel Spaß in der Ausstellung wünscht. So etwas hat es früher in Berlin nicht gegeben.

Die Ausstellungsräume sind überfüllt. Ich schwanke zwischen Genervtheit von den vielen Menschen, die mir den mir den Blick auf Kerze, Schädel und Seestück versperren, und Genervtheit von Menschen, die nie niemals den Fuß in ein Museum setzen, aber gegen deren Schließungen klickstark auf Facebook demonstrieren. Malerfürst, ja Malerfürst, denke ich. Was für eine bescheuerte Bezeichnung. Unser Teuerster etc. Aber warum sind wir eigentlich alle hier? Ich wünsche mir Kontemplation, aber ständig werde ich angerempelt, ständig klicken Kameras. Mir bleiben nichts als ein paar Flüchtige Blicke auf die beeindruckende stilistische Vielfalt: Abstraktion und Hyperrealismus, Verwischungen etc. Während ich mich frage, ob es überhaupt Kunst ist, wenn man etwas sieht und es versteht, knufft neben mir eine Rentnerin ihren Mann in die Seite und sagt: „Schon wieder so eine typische Öl-Fotografie.“ Nach einer Stunde muss ich hier raus. Ich möchte in einem Ohrensessel sitzen und im Katalog blättern.

Transmedialer Elektrozaun

Health & Safety Violation #36, Ben Woodeson

Es ist wieder einmal so weit: In der Schwangeren Auster wird Medienkunst gezeigt. Die Eingangshalle durchzieht ein Elektrozaun. Health & Safety Violation #36 heißt das von Ben Woodeson geschaffene Kunstwerk. Es wirkt etwas bedrohlich. Sicherheitspersonal achtet darauf, dass ihm niemand zu nahe kommt, der nicht die Haftungserklärung unterschrieben  hat, die den Künstler von allen Schadensersatzansprüchen freistellt.

Ich beobachte das Spektakel eine Weile, traue mich aber zunächst nicht, mir einen Stromstoß versetzen zu lassen. Es sind nur wenige Milliampere, die im Abstand von wenigen Sekunden durch den Zaun gejagt werden; etwa so viel wie durch einen Weidenzaun. Die Mutigen, die Plus- und Minuspol berühren, schreien zumeist kurz auf. Obowohl man weiß, dass etwas passieren wird, ist der Schreck enorm. Die meisten lachen, nachdem sie sich davon erholt haben. Eine junge Frau fällt zu Boden, was aber eher dem Schreck als der Stärke des Stromstoßes geschuldet ist.

Was der Künstler uns damit sagen will? Man weiß es nicht, niemand erklärt es. Der Reiz, es ausprobieren zu wollen, wird dennoch stärker. Ein paar Biere später werde ich mutig: ich unterschreibe, dass ich zur Mitwirkung an diesem Kunstwerk bereit bin, meinen Tod in Kauf zu nehmen, und erhalte im Gegenzug einen Stempel auf das Handgelenk, der mich für den Zutritt zum Elektrozaun berechtigt. Die Bekannte zieht mit (eigentlich hat sie mich überredet) und wir entscheiden uns für die Romantikvariante. Wir halten einander an den Händen, sie berührt den Minuspol, ich den Pluspol. (Vermutlich aber umgekehrt.) Dann passiert es: es funkt zwischen uns beiden. – Zeitgleich durchfährt unsere Körper ein kleiner Stromstoß. Es ist nicht so, dass man die Zaunstangen ununterbrochen festhalten möchte, aber auch nicht so schlimm wie erwartet. Wir machen es noch zwei weitere Male und fühlen uns den Rest des Abends wie Superhelden, die ein Medienkunstwerk bezwungen haben.