Meine Damen und Herren, zur Abwechslung etwas Erfreuliches: Das Meer. Ja ja, werden Sie jetzt sicher sofort sagen, und fragen, was daran erfreulich sein soll. Sie werden auf all die ertrunkenen Seeleute hinweisen, die bei rauer See am Kap der guten Hoffnung ihr Leben ließen, und auf Piraterie, die Wilhelm Gustloff und auf all die sich selbst überschätzenden Freizeitschwimmer, die auch von den vollbusigsten Baywatch-Retterinnen nicht mehr ins Leben zurückgeholt werden konnten. Vielleicht kommen Sie jetzt auch mit Offiziersanwärterinnen, die von der Takelage eines Segelschulschiffs fielen. Und obwohl sie das Wort „Takelage“ bis vor ein paar Wochen noch gar nicht kannten, werden Sie fragen, was an all dem erfreulich sein soll.
Wir schieben das – wie all die anderen unerfreulichen Dinge – einfach beseite. Obgleich ich nur ungern verreise, war ich zeitlebens immer gern am Meer. Für mich ist es nicht das Eintauchen ins Wasser, das den Reiz ausmacht. Darauf verzichte ich gern. Es sind der Blick in die Ferne, die endlose Weite, die gute Luft und das Rauschen der Wellen, die mich beglücken. – Am liebsten habe ich Spaziergänge am Meer im Herbst oder Winter, wenn es so richtig stürmt.
Aber auch im Sommer kann es am Meer einladend sein: Es ist Mitte August und die Sonne scheint. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie an der Nordsee. Natürlich möchte sie ins Wasser, hat aber keinen Badeanzug dabei. Im Drogeriemarkt des Ortes erwerben wir zu einem überhöhten Preis den schrillfarbigsten Bikini, den die Welt je gesehen, und ein Handtuch von einer Häßlichkeit, dass nicht einmal Touristen an mallorquinischen Swimmingpools es wagten, mit einem solchen Liegestühle zu blockieren. Aber das ist egal, denn es geht um das Gefühl, einmal, wenn auch nur für einen kurzen Moment, im Meer zu baden. Sie genießt es. Ich sitze am Strand und es ist schön, ihr dabei zuzuschauen. Ein frischer Wind weht mir um die Nase und trotzdem ist es angenehm warm. In trinke einen Schluck Bier aus der Flasche und in meinem Kopf summt Charles Trénet „La mer“.
Mein Urgroßvater ist schon zur See gefahren, mein Großvater, mein Vater – und natürlich auch ich. Das ist zwar erfunden, aber der versuchte Seemannsgarn einer Landratte macht sich ganz gut zum Einstieg dieser kleinen Geschichte.
Meine Seefahrererfahrungen beschränken sich im Wesentlichen auf Butterfahrten. Obwohl diese Touren eine beliebte Freizeitgestaltung für Senioren war, ist meine Oma vor allem meinetwegen mitgefahren. Als Kind liebte ich diese Ausflüge – weniger wegen der Möglichkeit des zollfreien Einkaufs von Schnaps und Zigaretten, sondern einfach wegen der vergnüglichen Schifffahrt an sich.
Alles war professionell organisiert: Beim örtlichen Reisebusunternehmer hatte man sich vorab anzumelden und später im Bus den Fahrpreis in Höhe eines Heiermanns pro Person in bar zu entrichten. Der Bus war klar in zwei Klassen geteilt: Die Profis, die jeden Tag mitfuhren, und zu deren vornehmsten Privilegien auch das ehrenamtliche Kassieren des Fahrpreises gehörte, hatten ihre festen Sitzplätze. Wer es wagte, als Amateurbutterfahrer den Platz eines Profis einzunehmen, dem wurde gedroht, später auf hoher See über Bord geworfen zu werden. Das riskierte niemand, Amateure hatten in den hinteren Reihen Platz zu nehmen.
Meistens wurde man vom Kutscher irgendwo in Dänemark ausgesetzt, um dann mit dem Dampfer über die Ostsee nach Eckernförde zurückzuschippern, wo der Bus wieder auf die Ausflügler wartete. Während der Fahrt konnte man im Bus Kaltgetränke oder warme Würstchen erwerben, die mittels eines vermutlich vom TÜV nicht abgenommenen Kochers, der an den Zigarettenanzünder angeschlossen war, erhitzt wurden. Ein solches „Gedeck“ überstieg leicht den Preis der gesamten Tagesreise; dies wurde aber damit gerechtfertigt, dass es sich um ein Zubrot des notleidenden Busfahrers handle, der diese Verköstigungen auf eigene Rechnung vertreibt.
Ständig musste man irgendwo seinen Personalausweis, ich meinen Kinderausweis ohne Lichtbild, vorzeigen. Nach stundenlanger Fahrt erreichte man schließlich irgendwann das Schiff, das meistens „Lady irgendwas“, einfach nur „Lady“ oder „Alte Liebe“ hieß. Zusammengepfercht mit Hunderten von anderen Butterfahrern ging es schließlich über eine kleine Brücke auf den rostigen Dampfer; ein Seelenverkäufer kurz vor dem Lebensabend. Währenddessen erzählte man einander alte Geschichten von der „Wilhelm Gustloff“ und erhielt wortlos einen kleinen Zettel mit einer Nummer darauf in die Hand gedrückt. Die Profis wussten sofort, was das zu bedeuten hat – alle anderen erfuhren es im Laufe des Tages.
Während der eigentlichen Butterfahrt gab es drei Hauptprogrammpunkte:
Das im Fahrtpreis enthaltene Mittagessen: entweder ein ledriges Schnitzel oder eine schon etwas abgekühlte Currywurst mit labbrigen, aber dafür umso fettigeren Pommes frites. Es war noch Jahrzehnte vor Erfindung von neologistischen Euphemismen wie Analogkäse oder Fleischersatz, aber dennoch alles ganz schlimm, wenngleich auch besser als Erbsensuppe. Für nicht wenige Butterfahrer, insbesondere diejenigen, denen die Mittel fehlten, um an Bord einzukaufen, war diese günstige Form der Verköstigung – neben der strukturierten Tagesgestaltung – der Hauptgrund für diesen Ausflug.
Der zollfreie Einkauf: Hier kamen die zuvor ausgegebenen Nummern zum Einsatz. Damit sich die mehrfach währungsreformerprobten Reisenden nicht gegenseitig für die Ersparnis von fünf Pfennig bei dem Erwerb eines halben Pfundes Butter zu Tode trampeln, wurden die Gäste nacheinander, geordnet nach Nummernkreisen, zum Einkauf gebeten. Meine Großmutter erstand meistens einige Stangen Zigaretten zu viel – für die Lieben daheim. Diese hatte ich dann in den eigens dafür mitgebrachten Kinderrucksack über die Grenze zu schmuggeln. Als kleine Bestechung erhielt ich eine Dose der köstlichen dänischen Lakritzen oder die wunderbaren Pfefferminzbonbons. Wir sind nie aufgeflogen – und die Tat ist längst verjährt, nur die Raucher von damals leiden noch heute an den Spätfolgen.
Die Tanzmusik: Ein Mann mit Schnurrbart hinter einer Heimorgel spielte abwechselnd „An der Nordseeküste“, den Schneewalzer sowie den Ententanz. Selbst beim stürmischsten Wetter wurde mir nicht schlecht – auch nach der Currywurst nicht. Dieser Musikant jedoch schaffte es mit ein paar Takten, in mir eine gewisse Übelkeit hervorzurufen. An Bord eines solchen Butterdampfers entwickelte sich vermutlich auch mein bis heute festsitzendes Tanztrauma, da ich regelmäßig von älteren Damen aufgefordert wurde, mit ihnen eine flotte Sohle aufs Parkett zu legen. So etwas geht an einem Jungen nicht spurlos vorüber und macht einen in der Adoleszenz in Diskotheken zum Eckensteher.
Für meine Oma zählte darüber hinaus auch das regelmäßige Plündern der Glücksspielautomaten zu den festen Bestandteilen eines solchen Ausflugs: „Pling, pling, pling, schepper, schepper, drück, tröt, tüdeldü, drück, drück, blink, schepper“ – und schon hatte sie wieder deutlich mehr Münzgeld unten herausgeholt als oben hineingesteckt. Wie sie das machte, ist mir bis heute ein Rätsel, aber es hat funktioniert. Ein geheimes Omasystem vermutlich, das sie in Zeiten von Internetpoker in ungeahnte Gewinnregionen brächte. Obwohl sonst dem Kartenspiel durchaus zugewandt, konnte sie sich mit den butterfahrenden skatspielenden Herren nicht so recht anfreunden.
Wieder festen Boden unter den Füßen, ging es mit dem Schmuggelgut gut durch den Zoll, dann folgten noch einmal Busfahrten; nicht mehr ganz so lang, aber immer noch lang genug. Die Omas schliefen währenddessen ein; manche schnarchten sogar – und die wenigen Opas machten die eine oder andere günstig erworbene Flasche Korn auf, bevor auch sie zu Schnarchen begannen.
Heute gibt es leider keine Butterfahrten mehr: dafür die EU samt Binnenmarkt, Kaffeefahrten mit Heizdeckenverkauf, Essen auf Rädern und Tagesstätten für Senioren. Eine Seefahrt, die ist lustiger.
Wir fahren auf einer Landstraße im Niemandsland zwischen Nordfriesland und Dithmarschen. Das Land ist hier sehr flach. Ich befinde mich auf dem Beifahrersitz und ziehe die imaginäre Notbremse. Mein Auge hat soeben etwas sehr häßliches entdeckt – ich muss es photographieren, ich kann nicht anders.
Irgendwo dort, wo Ortschaften Namen wie Wesselburen, Haferwisch oder Oesterwurth tragen, ist der Verfall der Provinz nicht mehr aufzuhalten.
Ein paar Meter weiter, am Eidersperrwerk, weht ein rauher Wind. Karg ist es hier, sehr karg. Ein kilometerlanger Deich aus Beton säumt die Straße.
Wer nun meint, im nahegelegenen Kurort Sankt Peter-Ording einer landschaftsbedingt aufkommenden Melancholie entgehen zu können, der irrt.
Hier ist es nämlich auch nicht besser: gelangweilte Kurgäste, mittelmäßige Eiscafés und unzählige Geschäfte für Windjacken.
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