Der Busfahrer ist ein untersetzter junger Mann. Er trägt eine weinrote Filzkrawatte und hat einen zauseligen Kinnbart. Vergeblich wartend steht er an der Tram-Haltestelle und telefoniert mit der Leitstelle der Straßenbahn. Laut und deutlich erwähnt er dabei mehrfach die ihn eindeutig identifizierende Dienstnummer. Die Tram kommt nicht, was den Busfahrer erbost, weil er deshalb seinen Bus nicht rechtzeitig übernehmen kann. Später, in der sehr verspäteten Bahn sitzend, telefoniert er mit seiner eigenen Leitstelle. Wieder nennt er zuerst laut und deutlich seine Dienstnummer und entschuldigt sein offenbar wiederholtes Zuspätkommen. „Das Leben hat mich gefickt“, murmelt er in das Telefon. „Meine Alte poppt fremd und ich habe seit zwei Tagen nicht geschlafen.“ Dann erzählt er von Sekundenschlaf im Dienst und übermäßigem Kaffeekonsum und dass er sein Auto zu Schrott gefahren habe. Zusammengesackt sitzt er da, kein Häufchen Elend, sondern eher ein Achttausender. Man möchte nicht mit ihm tauschen.
Anschließend in der S-Bahn unterhalten sich zwei Studentinnen der Humanmedizin im Praktischen Jahr. Beide befassen sich gerade mit onkologischer Chirurgie. Entzückt erzählen sie einander ihre schönsten Karzinomausräumgeschichten. Dabei kichern sie. Man möchte nicht bei ihnen auf dem OP-Tisch liegen.
Mein Urgroßvater ist schon zur See gefahren, mein Großvater, mein Vater – und natürlich auch ich. Das ist zwar erfunden, aber der versuchte Seemannsgarn einer Landratte macht sich ganz gut zum Einstieg dieser kleinen Geschichte.
Meine Seefahrererfahrungen beschränken sich im Wesentlichen auf Butterfahrten. Obwohl diese Touren eine beliebte Freizeitgestaltung für Senioren war, ist meine Oma vor allem meinetwegen mitgefahren. Als Kind liebte ich diese Ausflüge – weniger wegen der Möglichkeit des zollfreien Einkaufs von Schnaps und Zigaretten, sondern einfach wegen der vergnüglichen Schifffahrt an sich.
Alles war professionell organisiert: Beim örtlichen Reisebusunternehmer hatte man sich vorab anzumelden und später im Bus den Fahrpreis in Höhe eines Heiermanns pro Person in bar zu entrichten. Der Bus war klar in zwei Klassen geteilt: Die Profis, die jeden Tag mitfuhren, und zu deren vornehmsten Privilegien auch das ehrenamtliche Kassieren des Fahrpreises gehörte, hatten ihre festen Sitzplätze. Wer es wagte, als Amateurbutterfahrer den Platz eines Profis einzunehmen, dem wurde gedroht, später auf hoher See über Bord geworfen zu werden. Das riskierte niemand, Amateure hatten in den hinteren Reihen Platz zu nehmen.
Meistens wurde man vom Kutscher irgendwo in Dänemark ausgesetzt, um dann mit dem Dampfer über die Ostsee nach Eckernförde zurückzuschippern, wo der Bus wieder auf die Ausflügler wartete. Während der Fahrt konnte man im Bus Kaltgetränke oder warme Würstchen erwerben, die mittels eines vermutlich vom TÜV nicht abgenommenen Kochers, der an den Zigarettenanzünder angeschlossen war, erhitzt wurden. Ein solches „Gedeck“ überstieg leicht den Preis der gesamten Tagesreise; dies wurde aber damit gerechtfertigt, dass es sich um ein Zubrot des notleidenden Busfahrers handle, der diese Verköstigungen auf eigene Rechnung vertreibt.
Ständig musste man irgendwo seinen Personalausweis, ich meinen Kinderausweis ohne Lichtbild, vorzeigen. Nach stundenlanger Fahrt erreichte man schließlich irgendwann das Schiff, das meistens „Lady irgendwas“, einfach nur „Lady“ oder „Alte Liebe“ hieß. Zusammengepfercht mit Hunderten von anderen Butterfahrern ging es schließlich über eine kleine Brücke auf den rostigen Dampfer; ein Seelenverkäufer kurz vor dem Lebensabend. Währenddessen erzählte man einander alte Geschichten von der „Wilhelm Gustloff“ und erhielt wortlos einen kleinen Zettel mit einer Nummer darauf in die Hand gedrückt. Die Profis wussten sofort, was das zu bedeuten hat – alle anderen erfuhren es im Laufe des Tages.
Während der eigentlichen Butterfahrt gab es drei Hauptprogrammpunkte:
Das im Fahrtpreis enthaltene Mittagessen: entweder ein ledriges Schnitzel oder eine schon etwas abgekühlte Currywurst mit labbrigen, aber dafür umso fettigeren Pommes frites. Es war noch Jahrzehnte vor Erfindung von neologistischen Euphemismen wie Analogkäse oder Fleischersatz, aber dennoch alles ganz schlimm, wenngleich auch besser als Erbsensuppe. Für nicht wenige Butterfahrer, insbesondere diejenigen, denen die Mittel fehlten, um an Bord einzukaufen, war diese günstige Form der Verköstigung – neben der strukturierten Tagesgestaltung – der Hauptgrund für diesen Ausflug.
Der zollfreie Einkauf: Hier kamen die zuvor ausgegebenen Nummern zum Einsatz. Damit sich die mehrfach währungsreformerprobten Reisenden nicht gegenseitig für die Ersparnis von fünf Pfennig bei dem Erwerb eines halben Pfundes Butter zu Tode trampeln, wurden die Gäste nacheinander, geordnet nach Nummernkreisen, zum Einkauf gebeten. Meine Großmutter erstand meistens einige Stangen Zigaretten zu viel – für die Lieben daheim. Diese hatte ich dann in den eigens dafür mitgebrachten Kinderrucksack über die Grenze zu schmuggeln. Als kleine Bestechung erhielt ich eine Dose der köstlichen dänischen Lakritzen oder die wunderbaren Pfefferminzbonbons. Wir sind nie aufgeflogen – und die Tat ist längst verjährt, nur die Raucher von damals leiden noch heute an den Spätfolgen.
Die Tanzmusik: Ein Mann mit Schnurrbart hinter einer Heimorgel spielte abwechselnd „An der Nordseeküste“, den Schneewalzer sowie den Ententanz. Selbst beim stürmischsten Wetter wurde mir nicht schlecht – auch nach der Currywurst nicht. Dieser Musikant jedoch schaffte es mit ein paar Takten, in mir eine gewisse Übelkeit hervorzurufen. An Bord eines solchen Butterdampfers entwickelte sich vermutlich auch mein bis heute festsitzendes Tanztrauma, da ich regelmäßig von älteren Damen aufgefordert wurde, mit ihnen eine flotte Sohle aufs Parkett zu legen. So etwas geht an einem Jungen nicht spurlos vorüber und macht einen in der Adoleszenz in Diskotheken zum Eckensteher.
Für meine Oma zählte darüber hinaus auch das regelmäßige Plündern der Glücksspielautomaten zu den festen Bestandteilen eines solchen Ausflugs: „Pling, pling, pling, schepper, schepper, drück, tröt, tüdeldü, drück, drück, blink, schepper“ – und schon hatte sie wieder deutlich mehr Münzgeld unten herausgeholt als oben hineingesteckt. Wie sie das machte, ist mir bis heute ein Rätsel, aber es hat funktioniert. Ein geheimes Omasystem vermutlich, das sie in Zeiten von Internetpoker in ungeahnte Gewinnregionen brächte. Obwohl sonst dem Kartenspiel durchaus zugewandt, konnte sie sich mit den butterfahrenden skatspielenden Herren nicht so recht anfreunden.
Wieder festen Boden unter den Füßen, ging es mit dem Schmuggelgut gut durch den Zoll, dann folgten noch einmal Busfahrten; nicht mehr ganz so lang, aber immer noch lang genug. Die Omas schliefen währenddessen ein; manche schnarchten sogar – und die wenigen Opas machten die eine oder andere günstig erworbene Flasche Korn auf, bevor auch sie zu Schnarchen begannen.
Heute gibt es leider keine Butterfahrten mehr: dafür die EU samt Binnenmarkt, Kaffeefahrten mit Heizdeckenverkauf, Essen auf Rädern und Tagesstätten für Senioren. Eine Seefahrt, die ist lustiger.
Bahnfahren ist teuer geworden. Eine Fahrkarte für die Strecke Hamburg-Berlin kostet – zumindest für Spontanreisende – mittlerweile so viel wie die Kerosinfüllung eines Jumbojets. Daher habe ich mich kürzlich dazu entschlossen, aus Budgetgründen den Linienbus vorzuziehen. Immerzu ist die Rede davon, dass Reisen bildet. Dass Reisen auch quälen kann, sagt einem niemand.
Der Fahrer begrüßt die Reisenden mit nuscheligem Ostblockakzent. Dann die erste Kurve, es schaukelt. Keine Stewardessen weisen einem den Weg zum Notausgang, das Fahrwerk ist butterweich. Bei jeder Lenkbewegung droht der Doppeldecker umzukippen. Ich warte darauf, dass Sauerstoffmasken aus der Decke fallen, aber nichts passiert. Wann der Bus wohl zuletzt gewartet wurde? Den Nothammer an meinem Platz hat auch irgendjemand geklaut. Dabei hätte ich ihn so dringend benötigt.
Vor mir beginnt ein sehr dicker Mann zu schnarchen. Er ist so dick, dass in seiner Nackenfalte leicht zwei Eichhörnchen Platz hätten. Er legt sich quer über zwei Sitze und beginnt mit seinem Sägewerksimitationstraining und gerät dabei mächtig ins Schwitzen. Er sägt und stinkt und sägt und stinkt und sägt und stinkt. Ich sehe mich um: alle Mitreisenden haben offensichtlich einen Koffer in Berlin – vermutlich ihren einzigen, denn die meisten hier tragen als einziges Gepäckstück eine Plastiktüte bei sich.
Hinter mir sitzt eine bislang unentdeckte Art des siamesischen Zwillings: Zwei Teenagermädchen, die durch einen gemeinsamen weißen Musikspielerkopfhörer unzertrennlich miteinander verbunden sind. Das andere Ohr ist jeweils frei, um sich mit der Zwillingsschwester lautstark – schließlich muss das Kopfhörergeräusch kompensiert werden – über den neuesten Jungsgruppenkram, Urlaubspläne und Techtelmechtel zu unterhalten.
Neben mir packt eine dicke Frau, die noch so dick werden will wie der Mann vor mir, ein Wurstbrot aus: natürlich Leberwurst. Das Brot stinkt auch, die Frau schmatzt. Sie bietet mir ein Wurstbrot an, ich lehne dankend ab.
Mir wird schlecht. Ich schreie: „Ich bin Busreisender – holt mich hier raus!“ Nach dreieinhalb Stunden ist der Albtraum vorbei, die vermeintlich billige Bustour habe ich teuer bezahlt. Das nächste Mal fahre ich wieder mit der Bahn.
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