Ich komm rum: Dortmund

Diesen Beitrag habe im Rahmen des Projektes fuerhier.de geschrieben. Dessen Macher Michelle Flunger und Sascha Schilling haben mich eingelanden, im März 2015 eine Woche lang ihre Stadt handyfotografisch zu erkunden. Daraus entstanden u. a. eine Fotoausstellung und dieser Text.

Aus einem Brief an die Herausgeber, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. März 2013. Leser Erich Gahrau aus Diesen merkt zu einer wenige Tage zuvor erschienen Karikatur kritisch an: „Ihre Zeichner Greser und Lenz sind wirklich die letzten Anfänger. Da wollen sie Ruhrdeutsch schreiben, können es aber nicht. Erstens heißt es ‚hömma‘ und nicht ‚hörma‘. Zweitens, wenn einer irgendwo hinzeigt, dann sagt er „kumma“ (das ist verdeutscht: guck mal) und nicht ‚hömma‘.“

Dortmunder H

Prolog

Was ich mit Dortmund am Hut habe? Gar nichts. Deshalb bin ich hier. Ich wurde eingeladen, die Stadt zu erkunden. Dortmund ist sozusagen meine Villa Massimo. Nur eben ohne Knaben in Stein verewigende Bildhauer, ohne Zwölftonmusikkomponisten, ohne Sonne und vor allen Dingen ohne Rom. Auf den zweiten Blick jedoch verbinden mich drei Dinge mit dieser Stadt. Nix davon mit Fußball. 1. Im August vor zwei Jahren bin ich einmal am Hauptbahnhof umgestiegen, was allerdings keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat – und umgekehrt. 2. Ein Cousin meiner Mutter ist in der Ruhrmetrople wohnhaftig. Wegen seines übermächtigen Doppelkinns wird er von der Familie „Helmuth, der Halslose“ genannt. Meine Eltern haben ihn zuletzt vor über fünfundzwanzig Jahren anlässlich der Beerdigung der mir unbekannten, aber vermutlich ebenfalls halslosen Großtante zu Gesicht bekommen. Auf der Fahrt nach Dortmund regnete es in Strömen. Meine Eltern erreichten ihr Ziel, als die Verwandte bereits unter der Erde lag. 3. Früher habe ich gern Tatorte mit Schimanski gesehen. (Schimanski kam zwar aus Duisburg, aber das ist ja auch aus der Region und fängt mit „D“ an. Wie heißt es unter Tatortkommissaren? „Dortmund oder Düsseldorf – Hauptsache, Ruhrpott.“) Ich bedaure, dass es in Dortmund keine gescheite Currywurst mehr gibt. Hingegen begrüße ich, dass immer weniger Menschen hüftlange, mittels Kordelzug taillierte Feldjacken tragen.

Fensterausguck

Tag 1

Wegen eines sogenannten Notarzteinsatzes auf der Bahnstrecke verzögert sich meine Ankunft um eine Stunde. Naturgemäß regnet es. Aber ich bin da. Ich öffne den DOguide, eine App der DORTMUNDtourismus GmbH. Auf dem Begrüßungsbildschirm des Telefonprogramms hält eine kurzfingrige fleischige Frauenhand mit aufgeklebten dicken Gelnägeln ein etwa fünf Jahre altes iPhone vor ein städtisches Wahrzeichen, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch annehme, dass es sich um eine U-Bahn-Station handle. Ich erfahre von der Applikation des Tourismusverbandes leider nicht, dass die Stadt das zweitbeliebteste Urlaubsziel in Deutschland ist, direkt nach Halle Hooge im Winter. Stattdessen gibt man mir als Tipp des Tages an die Hand, dass es hier eine wunderbare Kunstausstellung von Kindern für speziell Hunde gibt, die dringend von mir besucht zu werden wünscht. Eine gute Sache, das.

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Dennoch ziehe ich zunächst vor, meine Unterkunft für die kommenden Tage in Augenschein zu nehmen. Es handelt sich um eine gemütliche Ein-Zimmer-Wohnung gegenüber dem Wok-Meister in einer der, wie man mir sagte, hipperen Gegend der Ortschaft. Da es noch immer stark regnet, entscheide ich mich für eine kleine Inventur des Bücherregals. Keine Romane. In mittelbarer Nachbarschaft jedoch Sachbücher über ‚Geigenbau‘, ‚Angeln‘ und ‚Digitale Aktfotografie‘. Es regnet noch immer, aber der Hunger treibt mich aus dem Haus. Da der Wok-Meister bratfrei hat, suche ich die Selbstbedienungsbäckerei am Ende der Straße auf. Bis zu diesem Moment hatte ich keinerlei Verwendung für das Adjektiv „räudig“. Der freundliche Verkäufer hat heute seinen ersten Tag. Er ist ein Ruhrpott-Original, der seine Teiglinge nicht mit dem Kühltransporter aus Osteuropa erhält, sondern in einem Flöz abbaut. Er erkundigt sich sogleich nach meiner Herkunft und dem Grund meines Aufenthaltes in dieser schönen Stadt. Als ich ihm mitteile, dass ich mir die besonders deren triste Seiten anzusehen gedenke, schickt er mich spornstreichs zum Borsigplatz, wo ich mir – wie er sich auszudrücken pflegt – „ein paar barocke Bauten“ ansehen könne. Vielen Dank usw.

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Des Abends geleitet man mich zu den Urbanisten. Das ist ein privater Verein, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Stadt lebenswerter zu machen. Angefangen hat man mit der Bemalung von Stromverteilungskästen. Dokumentiert wird dies in einer Ausstellung mit Fotos von bemalten Stromverteilungskästen. Einer dieser vormals mausgrauen Quader wurde mit aufgemalten bunten Bierkästen verziert. Auf einem anderen stehen auf gelbem Grund die Worte „Wohnen. Leben. Da sein.“ Ich habe nichts gegen schmuckvolle Gestaltung von Stromverteilungskästen, ich finde sie sogar sinnvoller als z. B. eine Olympiabewerbung. Noch sinnvoller allerdings finde ich den Genuss von Pils und Grillwurst im Hinterhof.

Hund im Fenster

Tag 2

Am folgenden Sonntag findet ein Fotorundgang statt. Treffpunkt ist selbstredend unter dem U, dem wohl wichtigsten und einzig möglichen Meetingpoint der Stadt. Das U ist sozusagen das Pendant zur Berliner Weltzeituhr. Auf dem Weg dorthin, direkt vor dem beliebten Bergmann-Kiosk, läuft mir eine Prozession von Senioren in sportlichen neonfarbenen Funktionsjacken mit Nordic-Walking-Stöcken entgegen. Angeführt von einer älteren Dame mit einem Jesus am hölzernen Kreuz. Ich staune so sehr über den mir bis dahin verborgen gebliebenen, vermutlich aber sehr hohen ruhrpottlichen Feiertag, dass ich vergesse, einen Fotobeweis von diesem Ereignis zu erstellen. Ist es trotzdem passiert? Gern hätte ich auf diesen Schreck das erste Bier des Tages getrunken, aber der Kiosk ist noch nicht geöffnet und die Zeit drängte. 25 Menschen warten bei Eiseskälte auf den Beginn und ich will sie nicht weiter warten lassen. Wir zuckeln gemeinsam durch die Stadt. Mir kommt der Euphemismus „Schaufensterkrankheit“ in den Sinn. Er beschreibt ein „Hinken mit Unterbrechung“. Aber all das dient der Lichtbildkunst. Häuser und Hunde werden wohlgemut auf kleine Chips in Taschentelefonen gespeichert. Die meisten Fotografen sind dabei trotz Kälteklirren vergnügt.

Ampel

Lediglich eine Teilnehmerin bemängelt, dass die Veranstalter keine Anmerkungen zu etwaigen Sehenswürdigkeiten am Wegesrand preisgeben und bezeichnet die Veranstaltung als „schweigenden Trauermarsch“. Während ich damit beschäftigt bin, mir in Gedanken auszumalen, wie schön es doch jetzt bei Schnaps und Butterkuchen in einer beheizten friedhofsnahen Gaststätte wäre, versäume ich leider, die Kritikerin auf die App von DORTMUNDtourismus hinzuweisen. Unser Spaziergang ist dort heute sicher nicht Tipp des Tages. Als wir am räudigen SB-Bäcker meines Vertrauens vorbeiziehen, winkt der Verkäufer mir enthusiastisch zu. Ich freue mich über meinen allerersten wirklich wahren original-pottigen Kumpelmoment. Da es noch immer sehr kalt ist, wünsche ich mir, ich hätte einen BVB-Schal.

Kegelbahn

Tag 3

Begegnung mit einer Eingeborenen. Treffpunkt am schwarz-gelben Vogelhäuschen im Stadtgarten. Noch so ein Weltzeituhrtreffpunkt – fast wie das U, aber in der zur Stadt viel besser passenden Farbe. Taubenfüttern verboten, Georg Kreisler hätte vermutlich seine Freude an diesem Ort. Die Pottlerin bemerkt, dass es in Dortmund an nahezu jeder U-Bahnstation drei Rolltreppen gäbe. Eine führt nach unten, zwei führen nach oben. Davon eine Express-Rolltreppe, auf der man sich im Vergleich zur Schneckenrolltreppe fast wie an die Erdoberfläche katapultiert fühlt. Die Eingeborene rätselt, warum denn die Expressrolltreppe nach oben führe, wo man es doch stets eiliger habe, nach unten zum abfahrenden Zug gelangen, während man doch auf dem Weg nach oben immerzu die Ruhe wech habe. Ich gebe zu bedenken, dass dies möglicherweise ein Relikt aus dem Bergbau sei: alles müsse möglichst rasch zu Tage gefördert werden.

Hannibal

Tag 4

Fotografieren, wo es etwas weher tut. Auf geht’s in die Nordstadt. Man riet mir, hier die Wertsachen gut im Auge zu behalten und das Mobiltelefon nach Fotoaufnahmen umgehend sicher zu verstauen. Das befolge ich. Ich gehe zum Kleinen Hannibal an der Bornstraße, ein gleichsam grauer und grausamer Wohnkomplex. Nicht einmal die Wikipedia gibt Auskunft über den Ursprung des Namens. Möglicherweise hatte der Bauherr ein Faible für den römischen Feldherrn der Antike. Wie dieser dem Römischen Reich, so fügt das Gebäude seinen Bewohnern schwere Niederlagen zu. In der Onlineausgabe einer Regionalzeitung beschreibt ein Dortmunder Baukunstfachmann, dass das Architekten-Team das Gebäude in „bester Le-Corbusier’scher Tradition“ entwickelt habe. Ich bin kein großer Le-Corbusier-Kenner, meine mich aber zu erinnern, dass der schweizerisch-französiche Meister trotz seiner Zuneigung zum Beton ein friedfertiger, aber zumindest farbkleksfroher Mensch gewesen ist.

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Anschließend folge ich dem Tipp meines Bäcker-Kumpels. Es geht zu Fuß in Richtung Borsigplatz, der Wiege des BVB. Alles so schön schwarz-gelb hier, obwohl der Fußballverein derzeit doch eher auf dem Weg in die zweite Liga zu sein scheint. In diesen Tagen bin ich hier besonders froh, dass ich meinen Bart ein wenig länger habe wachsen lassen; wurde ich doch noch vor ein paar Monaten ständig auf meine angebliche Ähnlichkeit mit dem Erfolglostrainer Jürgen Klopp angesprochen. Wirklich „barocke Bauten“, wie sie mir mein SB-Bäcker-Kumpel versprochen hat, finde ich hier jedoch keine. Über die wahren Schätze des pittoresken Kreisverkehrs mit den sechs sternförmig angeordneten Zufahrtsstraßen indes gibt die wunderbare Website borsigplatz-verfuerung.de ausführlich Auskunft. In kurzen Videos kommen dort lokale Größen zu Wort. So erfährt man von einem Taxifahrer die Anzahl der täglichen Umrundungen des Kreisverkehrs (80-100) ebenso wie von der Inhaberin des örtlichen Nussfachgeschäfts den Namen der beliebtesten Nuss-Mischung (Hochzeitsmischung). Ich verweile einen Augenblick, die leidenschaftliche Verführung bleibt jedoch zu meiner Enttäuschung aus.

Hörde

Tag 5

Ausflug nach Hörde. Endlich wird es richtig pottig und industrie-ig. Nachdem ich mich in den ersten Jahren meiner Schullaufbahn in Norddeutschland ausführlich mit Ebbe und Flut und Marsch und Geest befassen durfte, folgte ein erdkundlicher Exkurs in die ruhrgebietliche Monokultur, der gefühlt ähnliche Ausmaße wie das Dritte Reich im Geschichtsunterricht einnahm. Der Niedergang der Stahlkochbranche war für mich im Alter von 12 Jahren eher keines eines meiner bevorzugten Interessensgebiete. Heute wünsche ich mir, ich wäre damals etwas aufmerksamer gewesen. Ich lege eine Gedenkminute für Bernd und Hilla Becher ein und bestaune sodann ein vor Ewigkeiten stillgelegtes Stahlwerk. Die Chinesen haben es gekauft, konnten es dann aber doch nicht gebrauchen. Nun rostet es gemächlich vor sich hin.

Lediglich ein paar Schritte entfernt wurde auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerkes ein neuer Stadtteil errichtet, in dessen Zentrum ein See liegt. Dessen Ufer sind luxuriös bebaut. Hier hat jeder Grundbesitzer einen kleinen hannibalesken Wohnklotz für sich allein, allerdings schön weiß gestrichen und mit Anleger für’s Bötchen. Die ansässigen Erben der Ruhrbarone verbindet mit den Bewohnern der heruntergekommenen Nordstadt lediglich die Vorliebe für’s Aus-dem-Fenster-Schauen, wenn auch mit anderen Motiven. Ein bißchen hätte man es hier gern wie in der schicken Hamburger HafenCity, aber der künstliche See ist kein Tor zur Welt.

Auf der Rückfahrt ins Zentrum erneut bierseeliges Vuvuzelagetröte in der U-Bahn. Ja, feiert man den schon den Abstieg? Normalerweise hört man dieses Geräusch nur anlässlich von Welt- oder Europameisterschaften. Jedenfalls außerhalb des Ruhrgebietes.

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Tag 6

Langsam kenne ich mich aus in meiner neuen Hood. Ich habe herausgefunden, dass die Brötchen beim traditionellen Bäcker um die Ecke deutlich knuspriger sind. Leider begegne ich meinem SB-Kumpel, der gerade rauchend vor seinem leeren Laden steht, mit der vollen Brötchentüte von der Konkurrenz in der Hand. Er schaut mich böse an, sehr böse. Ich fühle mich ein bißchen wie ein Kanarienvogel, der gerade an giftigem Grubengas verendet. Ich fürchte, wir sind nun keine Kumpel mehr. Zum Glück steht meine Heimreise kurz bevor.

Ausflug zum Hafen. Es ist Europas größter Kanalhafen. Man muss den Markt nur eng genug definieren, um irgendwann Marktführer zu sein. Das weiß in Dortmund jeder Budenbetreiber. Auf die ‚Große Hafenrundfahrt‘ verzichte ich. Wohin soll man auch groß fahren im ehemaligen „Wasserbahnhof der Montanindustrie“?

Abends schnell einen Text vorlesen und dann ein kühles Pils genießen.

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Epilog

Eine knappe Woche reicht nicht aus, um eine Stadt wie Dortmund in ihrer Gänze zu erfassen oder auch nur ansatzweise zu verstehen. Wie ein Flaneur bin ich durch die Stadt gestreift, habe fotografiert und an den letzten Abenden meine kleinen Beobachtungen aufgeschrieben. Dennoch habe ich das Gefühl: Ich weiß viel zu wenig über diese Stadt. Dafür hätte ich viel mehr mit Dortmundern sprechen müssen. Aber wie es so ist: so viel zu sehen, so wenig Zeit.

Laut Tourismusverband hat Dortmund einen der schönsten Baseballplätze Nordrhein-Westfalens. Vielleicht tröstet das darüber hinweg, falls Schwarz-Gelb doch einmal in die zweite Bundesliga absteigen sollte. Dortmund wird es überstehen. Eine Stadt, in der die größte Sorge die Verschönerung von Stromverteilungskästen ist, kann so schnell nichts umhauen. Glück auf!


Weitere Fotos dieses Projektes von mir und anderen finden sich auf Instagram unter dem Hashtag #boschkommrum. Außerdem gibt es hier eine kleine Videodokumentation.

Wo ich gehe und stehe

Wo ich mich aufhalte, zeichnet mein Telefon auf.

Bekanntlich mache ich mir nicht viel aus Reisen. Hier ist der Beweis: Mein Telefon hat meine Aufenthaltsorte der letzten Jahre aufgezeichnet und ein kleines Programm macht diese nun sichtbar.

Im vergangenen Jahr hielt ich mich – abgesehen von zwei kurzen Abweichungen nach Norden und in den Süden – überwiegend in Hamburg und Berlin auf.

Ausreißer nach oben und unten sind künftig zu vermeiden.

Eine ganz und gar langweilige Reisegeschichte

HAM, Juni 2009

„Ich möchte den Totenkopf des Mannes
streicheln, der die Ferien erfunden hat.“

(Jean Paul)

Ich sitze in dem Café mit den großen Fensterscheiben, als eine Bekannte ihr kaputtes Fahrrad vorbeischiebt. Wir winken einander zu, sie kommt herein und setzt sich zu mir. Alsbald erzählt sie mir von den Vorzügen des Reisens: drei Wochen weilte die Bekannte gerade ohne Spanischkenntnisse allein in Kolumbien. Ein wenig bewundere ich sie für ihren Unternehmungsgeist.

Für mich spielte das Reisen nie eine besonders große Rolle: In meiner Kindheit war es aus familiären Gründen nicht möglich, später hat es sich mir nie wirklich erschlossen. Ganz im Gegenteil: Wenn ich ganz neu an einem Ort ankomme, verspüre ich so etwas wie einen Ortswechselschock – eine Art innere Unruhe. Diese hält in der Regel mehrere Tage an, bis ich mich mit meiner neuen Umgebung vertraut gemacht habe. Erst wenn ich weiß, wo es das Frühstück, einen guten Kaffee und eine Tageszeitung gibt, wie der öffentliche Nahverkehr am Urlaubsort funktioniert, oder wo ich einen Internetzugang habe, etc., kann ich langsam damit beginnen, mich ein wenig zu entspannen. Meistens ist dann aber der gebuchte Urlaub bereits wieder vorbei. Insbesondere Rundreisen wären für mich daher völlig undenkbar.

Die Bekannte fragt mich, wohin meine bislang weiteste Reise ging. Ich tue, als müsse ich nachdenken, dabei habe ich Europa nie verlassen: Vor vielen Jahren weilte ich einmal im Januar für zehn Tage auf Fuerteventura. Allerdings handelte es sich um eine eher unfreiwillige Reise zu einer Art Tagung.

„Fahr doch mal ein paar Tage weg, entspanne dich“, lautet häufiger der gutgemeinte Rat von Freunden. Aber was soll schon woanders anders sein – von der Räumlichen Umgebung einmal abgesehen? Ich kann das nicht; lieber bleibe ich ein paar Tage in Hamburg oder Berlin, vertrödele den Tag im vertraueten Umfeld, gehe dort frühstücken, wo es den besten Käse und den leckersten Cappuccino gibt, und anschließend vielleicht in eine Ausstellung. Alles Dinge, die ich an einem Urlaubsort womöglich auch täte – nur ohne ein gezwungenes Wegfahren um des Ortswechsels willen. Und vor allem ohne Ortswechselschock.

Nur sehr wenige Male hat man es in den letzten Jahren geschafft, mich zu einer Urlaubsreise zu bewegen: nach Rügen, Madeira und sogar nach Bayern. Erst einmal am Ziel angekommen, war es dann auch immer ganz schön. – Allerdings war dies sicher auch immer ein großes Stück weit der angenehmen vertrauten Begleitung geschuldet. (Selbst die reiselustige Bekannte gab zu, dass das Alleinreisen für sie kein Ideal sei.)

Warum diese langweilige Reisegeschichte aufschreibe? Das obige Foto habe ich zufällig gerade auf meinem Rechner wiedergefunden – ich wollte es gern veröffentlichen, aber nicht so ganz für sich allein stehen lassen.

Warten auf Züge ist wie Arbeit

Drei Mal in den vergangenen Tagen nach vier Uhr ins Bett gegangen, zum Ausgleich heute vor vier Uhr aufgestanden. Es geht, wenn man muss.

Noch 20 Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges. Morgens, um fünf Uhr, wirkt der Berliner Hauptbahnhof wie frisch gebadet: Die Putzkolonnen haben ihre Arbeit bravourös gemeistert, kaum ein gehetzter Reisender ist jetzt schon unterwegs. Noch 15 Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges. Ich erwerbe eine Tageszeitung, es ist genug Zeit für ein Foto. Noch 10 Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges. Das Kaffeehaus H. Meins in der ersten Etage ist geschlossen, mein Körper verlangt jedoch nach einer Koffeinzufuhr. Lediglich die Niederlassung einer Großbäckerei bietet Heißgetränke aus gerösteten Bohnen an, welche jedoch mittels Vollautomaten zubereitet werden. Kaffeegenuss ist anders. Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges. Ich entscheide mich doch für den Kaffee, obwohl sein Weg in den Körper leider über den Gaumen anstatt direkt in die Vene führt. Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges. Wieder einmal bemerke ich, wie schlecht doch die Wege zu den Gleisen ausgeschildert sind. Es ist knapp. Noch eine Minute bis zur Abfahrt meines Zuges. Ich hetze die Rolltreppe hinunter, der Zug fährt bereits ein. Ich erreiche ihn – aber sehr, sehr knapp.

Erst Trödeln und dann Drängeln ist ja irgendwie auch so eine Unart. Warten auf Züge ist im Prinzip wie Arbeit: Je mehr Zeit man hat, desto mehr braucht man auch.