Stätten meiner Jugend

Und überall hört man die Eltern klagen:
„Mein Gott, was haben wir falsch gemacht?“
„Also, wenn Du mich fragst, ich kann’s Dir nicht sagen.
Aber wenn das mal nichts mit dem System zu tun hat.“

(Blumfeld, Jugend von heute)

Keksfabrik

Ehemalige Keksfabrik

Wo früher die Keksfabrik stand, befindet sich heute eine Wiese. Meine Großmutter erwarb hier früher kiloweise Bruch: zersplitterte Dominosteine und zerbröselnde Keksröllchen mit Schokoladenüberzug. Mehl mit Zucker und Butter und Zucker und Butter. Bereits im Sommer versprühte die Fabrik mit dem roten Emailleschild, das sie als „königlicher Hoflieferant“ anpries, den aufdringlichen Duft von Lebkuchen. Mittlerweile esse ich Kekse wieder gern.

Tanzschule

Ehemalige Tanzschule

Wo früher die Tanzschule stand, befindet sich heute ein Parkhaus. In meiner heimatlichen Kleinstadt gab es damals zwei Tanzschulen. Ich besuchte die coolere von den beiden. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass der Disco Fox nicht mit der steiferen Standard-Handhaltung neben dem Kopf, sondern mit der lockeren Variante von unten, also auf Hüfthöhe, vermittelt wurde. Wie in Jugendkursen üblich, herrschte ein gewisser Frauenüberschuss. Dies hatte zur Folge, dass Gastherren aus fortgeschritteneren Kursen einsprangen. Weil sie besser tanzen konnten, bekamen meistens die attraktiveren Tanzpartnerinnen ab. Die schönste Frau in meinem Tanzkurs war sehr groß und sehr blond und sehr schön. Irgendwann traute ich mich, sie aufzufordern. Leider hieß sie genau wie meine Mutter: Renate. Das war einerseits sehr unangenehm, weil mich das so blockiert hat, dass ich nie mehr mit ihr Tanzen konnte. Andererseits befreite mich dies schlagartig von der Peinlichkeit meiner Erektion. Obwohl ich kein sonderlich guter Tänzer war, brachte ich es bis zum Bronzekurs. Heute stehe ich gewöhnlich in Ecken herum und tanze noch auf Scheidungen und Beerdigungen.

Bank

Ehemaliges Direktorenzimmer

Wo früher das Büro des Bankdirektors war, befindet sich heute eine sexualpädagogische Beratungsstelle. Im Rahmen meiner Bankausbildung verbrachte ich einige Monate in dieser Filiale. Der Direktor war sehr groß und sehr breit, man nannte ihn Klotz. Ihm wohlgesinnte Menschen bezeichneten seinen Führungsstil als „Management by Zuckerbrot und Peitsche“. Sein verrauchtes Zimmer war auch im Sommer stets auf Minusgrade heruntergekühlt. Weil das penetrante Lüftung nicht gegen den Gestank an kam, nebelte er sich zusätzlich mit einem sehr schweren Eau de Toilette ein: Fahrenheit von Christian Dior. Obwohl sich all dies negativ auf seine Stimmbänder auswirken musste, konnte er viel besser sehr laut schreien als leise sprechen. Noch heute zucke ich ein wenig zusammen, wenn mein Nase Fahrenheit vernimmt.

Heimatalbum

Früher hatten meine Großeltern einen Schrebergarten. Um den etwa 500 Meter weiten Fußmarsch dorthin zu überstehen, hat mir meine Oma als Proviant sogenannte Hasenbrote mit Nutella in eine Umhängetasche aus Jeansstoff gepackt. Der Garten diente weniger dem Vergnügen als dem Anbau von Obst und Gemüse; es handelte sich sozusagen um den Inbegriff eines Pachtverhältnisses (Überlassung eines Grundstückes gegen Zahlung eines Pachtzinses zum „Fruchterwerb“, wie es im Juristendeutsch wunderbar heißt). In einem kleinen Buch wurde genau verzeichnet, was an welcher Stelle angebaut wurde: Bohnen, Kartoffeln, Erdbeeren und vieles andere mehr. In der Mitte des Gartens befand sich eine kleine grüne Laube, in deren Boden eine Luke eingefasst war. Für mich stand dort stets eine Zitronenlimonade bereit, für meinen Opa eine Flasche Schnaps, als Belohnung für die harte Arbeit. Direkt nebenan weideten Pferde auf einer Wiese, die mit einem Zaun gesichert war, durch den ein schwacher elektrischer Strom floss. Der Pferdebesitzer war ein unfreundlicher dicker Mann.

Heute befindet sich ein Neubaugebiet an der Stelle, wo meine Großeltern früher einen Schrebergarten hatten.

Kleine Schleswig-Holstein-Tour

Verfall in der schleswig-holsteinischen Provinz

Wir fahren auf einer Landstraße im Niemandsland zwischen Nordfriesland und Dithmarschen. Das Land ist hier sehr flach. Ich befinde mich auf dem Beifahrersitz und ziehe die imaginäre Notbremse. Mein Auge hat soeben etwas sehr häßliches entdeckt – ich muss es photographieren, ich kann nicht anders.

Irgendwo dort, wo Ortschaften Namen wie Wesselburen, Haferwisch oder Oesterwurth tragen, ist der Verfall der Provinz nicht mehr aufzuhalten.

Ein paar Meter weiter, am Eidersperrwerk, weht ein rauher Wind. Karg ist es hier, sehr karg. Ein kilometerlanger Deich aus Beton säumt die Straße.

Am Eidersperrwerk
Am Eidersperrwerk

Wer nun meint, im nahegelegenen Kurort Sankt Peter-Ording einer landschaftsbedingt aufkommenden Melancholie entgehen zu können, der irrt.

Sitzbank am Strand von Sankt Peter-Ording
Sitzbank am Strand von Sankt Peter-Ording

Hier ist es nämlich auch nicht besser: gelangweilte Kurgäste, mittelmäßige Eiscafés und unzählige Geschäfte für Windjacken.


Weitere Photos:

Kollmar

Direkt hinter dem Deich habe sie als Kind gewohnt, erzählte mir einst eine alte Dame. Sie wollte immerzu über ihn hinweg blicken, deshalb habe sie einen so langen Hals.

In Kollmar, in der Kremper Marsch, wenige Kilometer von Hamburg entfernt, gibt es außer Deichen nicht viel. Dahinter liegt die Elbe, nachts ist es hier viel dunkler als in der Großstadt und selbstredend auch sehr viel ruhiger; jedenfalls wenn die vielen motorradfahrenden Tagestouristen den Ort wieder verlassen haben und nicht gerade der Hahn im Morgengrauen kräht. Manchmal fährt ein Schiff vorbei und tutet ein wenig, seltener dient das flache Marschenland als Filmkulisse.

Unaufgeregtes Landleben kann man hier besichtigen; etwas ereignislos, aber eigentlich ganz schön. Die Krabbenbrötchen schmecken wunderbar, die Hälse der Menschen hier sind jedoch normallang.