Ausblick

Ich, Rügen, im März 2008.

„Wird’s besser? Wird’s schlimmer?“,
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich:
Leben ist immer lebensgefährlich.

(Erich Kästner)

Was konsequent wäre: Noch einmal zu feiern, als gäbe es kein Morgen. – Und dann gibt es plötzlich wirklich kein Morgen.

Glück

Falls im neuen Jahr unerwartet das Glück vor Dir stehen sollte:

  1. Erkenne es.
  2. Lass Dich darauf ein.
  3. Hab Vertrauen zu ihm.
  4. Sprich mit ihm.
  5. Tu alles dafür, dass es bei Dir bleibt.
  6. Freue Dich darüber.

(Und lass Dir keine Ratschläge von Leuten geben,
die es auch nicht besser können als Du.)

Kurt Tucholsky: Silvester

Silvester

Was fange ich Silvester an?
Geh ich in Frack und meinen kessen
blausanen Strümpfen zu dem Essen,
das Herr Generaldirektor gibt?
Wo man heut nur beim Tanzen schiebt?
Die Hausfrau dehnt sich wild im Sessel –
der Hausherr tut das sonst bei Dressel –,
das junge Volk verdrückt sich bald.
Der Sekt ist warm. Der Kaffee kalt –
Prost Neujahr!
Ach, ich armer Mann!
Was fange ich Silvester an?

Wälz ich mich im Familienschoße?
Erst gibt es Hecht mit süßer Sauce,
dann gibts Gelee. Dann gibt es Krach.
Der greise Manne selbst wird schwach.
Aufsteigen üble Knatschgerüche.
Der Hans knutscht Minna in der Küche.
Um zwölf steht Rührung auf der Uhr.
Die Bowle –! (›Leichter Mosel‹ nur –).
Prost Neujahr!
Ach, ich armer Mann!
Was fange ich Silvester an?

Mach ich ins Amüsiervergnügen?
Drück ich mich in den Stadtbahnzügen?
Schrei ich in einer schwulen Bar:
»Huch, Schneeballblüte! Prost Neujahr –!«
Geh ich zur Firma Sklarz Geschwister –
(Nein, nein – ich bin ja kein Minister!)
Bleigießen? Ists ein Fladen klein:
Dies wird wohl Deutschlands Zukunft sein …
Helft mir armem Mann!
Was fang ich bloß Silvester an –?

(Einladungen dankend verbeten.)

(Kurt Tucholsky)

Silvester 2009

Dieses Mal kein Bleigießen mit befreundeten Pärchen, an deren Tisch er für eine ungerade Gästezahl gesorgt hätte. Stattdessen verbrachte er den Jahreswechsel allein mit seinem Fotoapparat auf einer Party mit 2000 Menschen. Normalerweise fotografierte er die Tristesse der Großstadt, an diesem Abend jedoch widmete sich sein Objektiv lächelnden Gesichtern. Fröhlich feierten sie vor sich hin; sie hatten einen stattlichen Eintrittspreis bezahlt — für sie musste es die Party des Jahres werden.

Er hingegen musste nur draufhalten, was mit zunehmendem Alkoholgenuss im Laufe des Abends immer leichter fiel. „Ich bring‘ dich ganz groß raus“, hatte er im Spaß zu den Attraktiveren gesagt. Bei einigen von ihnen war er sich jedoch nicht sicher, ob sie die Ironie, die in seinen Worten mitschwang, zu verstehen vermochten.

00:00:00 Uhr, man schrieb jetzt das Jahr 2010: draußen ein Feuerwerk, neben ihm ein zögerliches Knallen von Schaumweinkorken. Die Menschen um ihn herum fielen einander plötzlich in die Arme, nur er stand ganz einsam mit seiner Kamera da.

Wenngleich auch seine Beschreibung dieses Abends etwas melancholisch klang, so wäre die Behauptung, er hätte gar keinen Spaß gehabt, unzutreffend gewesen. Schließlich hatte er viel weniger auszustehen als die jungen Damen, die an der Garderobe unermüdlich gegen das Chaos kämpften.