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Immerwährende Themen

Weihnachtsmarkt
Photo: adactio

Regionalzeitungsredakteur müsste man sein. Dann gingen einem die Themen niemals aus, selbst wenn man nicht in Berlin, Hamburg oder München tätig ist, sondern in Castrop-Rauxel oder Buxtehude schafft. Ein Blick auf das Kalenderblatt, ein zweiter auf das Thermometer und schon sind auskömmliche Auflagenzahlen garantiert.

So wie jetzt, Anfang Dezember, wenn sich alle Jahre wieder nicht nur die Türen der Adventskalender öffnen, sondern auch die zahllosen Weihnachtsmarktsbudenbetreiber hektoliterweise minderwertige Weinerzeugnisse mit geheimnisvollen Gewürzmischungen versetzen, und diese dann so stark erhitzen, bis kaum noch ein Konsument dieses Gebräus bemerkt, wie unerbittlich dieser gaumenbeleidigende Brauch die letzten verbliebenen Geschmacksnerven abtötet. Einzig für die Lokalpresse ist dies ein Grund zur Freude. Seitenweise Berichterstattung über die angeblich besten Weihnachtsmärkte der Stadt lassen regionale Postillen wie von Geisterhand auf einen beachtlichen Umfang anschwellen und die Kassen der Zeitungsverlage süß wie selten klingeln. Blatt für Blatt strahlen uns in der besinnlichen Vorweihnachtszeit die sichtlich angeheiterten Arbeitskollegen Hans (35) und Franz (37) an und teilen uns nicht nur mit, wo es den ihrer Meinung nach schmackhaftesten Glühwein gibt, sondern auch, auf welchem der Budendörfer sich am einfachsten Damenbekanntschaften schließen lassen. Dem wollen natürlich die BWL-studierenden Freundinnen Ina (19), Nina (21) und Bettina (22), welche allesamt mit lustig blinkenden Weihnachtsmannmützen verziert sind, in nichts nachstehen und empfehlen uns ungefragt einen ganz anderen „Glühmarkt“, auf dem immer „so eine tolle ausgelassene Atmosphäre ist“. Dann folgen mit weiteren „heißen Tipps“ noch ein frischverliebtes Pärchen, ein lustiger Kegelklub und ein Landfrauenverein aus dem Umland – für jeden Geschmack gibt es den passenden Weihnachtsmarkt, obwohl sich die Märkte, abgesehen von unterschiedlichen Standorten, für den nüchternen Betrachter durch nichts unterscheiden wollen.

Wohl dem, der in einer Großstadt mit ganz vielen Weihnachtsmärkten Lokalredakteur sein darf, da füllen sich die Zeitungsseiten wie von ganz allein. Sollte der zuständige Weihnachtsredakteur in der Hautpsaison unter einem kurzzeitigen Kreativitätstief leiden, so kann er einfach der Weihnachtsmarktsberichtserstattung des vergangenen Jahres ein paar aktuelle Bilder mit der diesjährigen Weihnachtsmarktsglühweintassenkollektion beifügen und das Ganze noch einmal in den Druck geben. Seine Abonnenten und Leserbriefschreiber werden es ihm bestimmt auch in diesem Jahr wieder danken.

Ist das etwa schon alles? Nein, noch lange nicht. Es gibt – wie in jedem Jahr – noch weitere bewegende Themen abzufackeln: Haben Sie eigentlich einen Adventskalender, und womit befüllen Sie die geputzten Nikolausstiefel? Wie laut klingeln in diesem Jahr an den Adventssamstagen die Kassen der Einzelhändler (ein tolles Thema für vier Wochen, darüber freut sich auch der Chefredakteur)? Und wie wäre es mit ein paar Umfragen, um das Blatt zu garnieren? Sind Sie eigentlich auch in der Vorweihnachtszeit so gestresst oder geht es bei Ihnen besinnlich zu? Was schenken Sie in diesem Jahr Ihren Liebsten und wieviel Geld geben Sie für Geschenke aus? Gehen Sie am Heiligabend in die Kirche? Weihnachtsgans, Karpfen blau oder Würstchen mit Kartoffelsalat – was kommt bei Ihnen Weihnachten auf den Tisch? Genug der Umfragen, jetzt noch ein paar ganz investigativ recherchierte Artikel: So feiert in diesem Jahr die B- und C-Prominenz das Weihnachtsfest. Was nicht fehlen darf, sind natürlich ausführliche Berichte über die Kursentwicklung an den Tannenbaumbörsen sowie Hinweise zur Nadelvermeidung und die zehn besten Löschtipps für in Brand geratene Weihnachtsbäume. Und kennen Sie eigentlich noch traditionelle Weihnachtslieder oder Gedichte? Nein? Dann haben wir hier etwas für Sie: Ganz exklusiv – eine fünfseitige Sonderbeilage mit den schönsten Gedichten und Lieder zum heiligen Fest. Und dazu für unsere Leser noch die besten Spendenkontonummern für wohltätige Zwecke auf zwei Seiten. Ebenfalls ganz exklusiv natürlich.

So, Weihnachten ist jetzt geschafft. Was für ein Stress, denkt sich der Lokalschreiber, aber jetzt droht schon der Jahreswechsel mit bewegender und unvermeidlicher Themenvielfalt: Fahren Sie Silvester in den Urlaub oder bleiben Sie zuhause? Gehen sie fein aus oder feiern Sie auf dem heimischen Sofa mit guten Freunden in das neue Jahr? Fondue oder nicht Fondue? Brot statt Böller oder umgekehrt – das sind in den letzten Tagen die blattfüllenden und auflageentscheidenen Fragen.

So, jetzt aber wirklich, das Jahr ist geschafft. Endlich. Aber nach dem Jahr ist vor dem Jahr und auch für das „frohe Neue“ hat die Redaktion wieder ein paar supertolle brandheiße Themen für ihre treue Leserschaft gefunden. Der erste Schnee, der erste Sonnenstrahl des Jahres, der späte Schnee, der kalendarische Frühlingsbeginn, der Schwanenvater setzt die Schwäne aus (Achtung: nur in Hamburg), der Osterspaziergang, die ersten Frühlingsgefühle (wieder seitenweise frisch verliebte turtelnde Paare auf romantischen Spaziergängen; Fotograf mitnehmen, nicht vergessen). Ach, ist das alles schön. Und dann noch der Beginn der Freibadsaison, das Ende der Freibadsaison, die letzten Cabriofahrer mit offenem Verdeck, die fallenden Blätter im Herbst, der herrliche Altweibersommer, der Schwanenvater holt die Schwäne wieder ein (auch nur in Hamburg), der goldene Oktober, und dann irgendwann droht schon wieder der nächste Weihnachtsmarkt.

Und wenn wirklich einmal alle Stricke reißen sollten, und keines der erwähnten Großereignisse gerade auf dem Plan steht, dann hilft dem findigen Journalisten noch immer der Vergleich der aktuellen Temperaturen und Niederschlagsmengen mit dem hundertjährigen Kalender aus der Klemme.

Lokalreporter sein, was für ein Leben – Zeitungsleser sein, was für eine Qual …

12 Antworten auf „Immerwährende Themen“

… und wenn es einen zum Studieren ins Rheinland verschlägt, dann kann man auch noch ein halbes Jahr lang Interessantes vom Karnevalsprinzen und seinem Hofstaat erfahren — und das nicht nur in den kleinen Zeitungen sondern überall…

Ihr habt Probleme. Hier in Nürnberg tobt seit Freitag die entfesselte Mutter aller Weihnachtsmärkte: Der Kristkindlesmarkt(wehe man spricht es falsch aus)
Grösste Feuerzangenbowle der Welt inklusive.
Herr lass es Hamburg werden! Scotty beam mich zurück an den künstlichen Elbausgang. In Astra we trust..

Sehr gut beobachtet! Lokalzeitungen betreiben tatsächlich dieses extreme Artikelrecycling. Da sagt der Chefredakteur vermutlich in der Morgensitzung: „Wir brauchen noch ne Weihnachtsmarktstory, was mit Glühwein trinken und so…“ – Dann darf der Praktikant los, paar Leute interviewen wie es denn so schmeckt und ob sie schon alle Geschenke haben… wäre mal interessant die Ausgaben aus den verschiedenen Jahren zu vergleichen – und vielleicht die immer gleichen Denk- und Recherchemuster festzustellen…

Im Netz ist es doch das gleich mit den untoten immerwährenden Jahreszeitstories.

Mein Favorit ist der Lokalpresse ist allerdings der Typ „Mandy (17) und Katja (15) genießen die Sonnenstrahlen und das erste Eis des Jahres …“

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