Bücher Heymann am Eppendorfer Baum, Hamburg, am 24.05.2008
Siegfried Lenz hat eine neue Novelle geschrieben, sie heißt Schweigeminute. Auch Warteschlange wäre ein schöner Titel gewesen, wenn er geahnt hätte, welchen Massenansturm die von einer Eppendorfer Buchhandlung organisierte Signierstunde auslöste.
Halb Hamburg, zumindest die Hälfte derer, die regelmäßig zum Buch greifen, war erschienen, um sich ein Exemplar vom Autor unterzeichnen zu lassen. Mehr als eine Stunde lang bewegte sich die Warteschlange lediglich einen knappen Meter vorwärts, was die Vermutung aufkommen ließ, dass einige Bildungsbürger dieses Ereignis nutzten, um sich gleich ihre gesamte Bibliothek widmen und signieren zu lassen. Ältere vorbeiziehende Passanten stellten beim Anblick der großen Anzahl an Wartenden spornstreichs Vergleiche mit der mageren Nachkriegszeit an, andere verwiesen auf Verhältnisse in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.
Nicht selten frug jemand verwirrt nach dem Grund dieses ungewohnten Menschenauflaufs, obgleich nicht zu übersehende Plakate und Werbetafeln die Autogrammstunde des Schriftstellers ankündigten. Der Mann vor mir, offensichtlich ein subversiver Charakter, gab einige Male bereitwillig Auskunft, bevor er dazu überging, zu antworten, dass Dieter Bohlen eine gerade seine neu verfasste Biographie signiere. Ich fand Gefallen an der systematischen Desinformation und behauptete fortan auf Nachfrage, es sei ein neuer Harry-Potter-Band erschienen – Harry Potter und die Auferstehung von den Toten. Einige Auskünfte später taten wir uns zusammen und antworteten im Chor, dass Harry Potter gerade die neue Dieter-Bohlen-Biographie läse und sie drinnen gemeinsam eine Signierstunde abhielten. Vielleicht wären wir Freunde geworden, wenn wir noch länger gemeinsam unsere Wartzeit verbracht hätten.
Angestellte der Buchhandlung Heymann begannen damit, Trinkwasser auszuschenken, um den ersten Dehydrierungserscheinungen entgegenzuwirken, und Schokolade an die quengelnden Kinder zu verteilen, um diese ein wenig ruhig zu stellen. Beide Maßnahmen zeigten auch bei mir Erfolg: ich bin nicht verdurstet und mein Gemütszustand hat sich stabilisiert. Nach einer weiteren halben Stunde des Ausharrens in der Warteschlange allerdings erkannte ich die latente Gefahr eines Zuckerschocks und verweigerte fortan die weitere Annahme von Schokoladentäfelchen. Der Gedanke an die Gesamtbibliothekssignierung wurde zwischenzeitlich von der Vermutung abgelöst, dass der Hamburger Ehrenbürger seine neue Novelle zunächst noch schreiben müsse, bevor er diese auch signieren könne – doch plötzlich ging alles sehr rasant:
Eine Mitarbeiterin des Buchladens dankte mir für meine Geduld, entriss mir mein Buch, kennzeichnete mittels Einlage des Schutzumschlages die für die Unterschrift vorgesehene Seite, schob mich dann, nicht ohne mich zu ermahnen, dass angesichts der fortgeschrittenen Zeit keine Gelegenheit mehr für persönliche Widmungen sei, in Richtung des Autorentisches.
Siegfried Lenz signiert seine neueste Novelle Schweigeminute
Nach fast anderthalb Stunden des Wartens saß mir gegenüber nun ein geduldiger, aber sichtlich erschöpfter Siegfried Lenz, der nun mit zittriger Hand meine Erstausgabe signierte. Gern hätte ich ihm bei dieser Gelegenheit für seine zahlreichen, in unaufgeregtem Erzählton verfassten, wunderbaren Bücher gedankt; für die Deutschstunde genauso wie für das Heimatmuseum, Die Klangprobe, Der Verlust, aber auch für seine neueren Werke wie Arnes Nachlaß oder das Fundbüro und die vielen anderen. Er unterzeichnete, nickte mir freundlich zu, ich sagte Danke und nach wenigen Sekunden war unsere Begegnung vorüber.
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