Schön ist die Heimat,
so man sie hat.
Schön ist der Hering,
besonders der Brat-.
(Wiglaf Droste)
Vor genau einem Jahr bin ich nach Berlin gegangen; so richtig angekommen bin ich jedoch nie. Etwas ist gegangen, etwas ist gekommen – und ich bin immer noch in der Hauptstadt, die ich eigentlich ja mag. Dennoch fühle ich mich hier gestrandet, obwohl ich weiß, dass es ziemlich egal ist, wo man eigentlich ist.
In einem sozialen Netzwerk gebe ich als Heimat „Herzsprung“ an – ein Ort irgendwo im Nirgendwo an einer Autobahnabfahrt zwischen Hamburg und Berlin und aus den Lautsprechern ertönt „Nowhere Man“ von den Beatles.
In der Tram treffe ich schon wieder eine gute Bekannte. Nachdem wir uns gegenseitig versichern, wie gut es uns ginge, fragt sie mich, ob ich es bereue, hierher gekommen zu sein. Ich verneine, denn anfangs war es sehr schön; diese Zeit möchte ich nicht missen. Nur mein Zaudern bereue ich, aber dafür ist es nun zu spät.
Kurz vor seinem Tod nimmt Kurt Tucholsky einen letzten Eintrag in sein „Sudelbuch“ vor, die bekannte Treppe: „Sprechen – Schreiben – Schweigen“. Es ist das bedrückende Dokument eines „aufgehörten Dichters“, wie er sich selbst bezeichnete. „Dass ich mein Leben zerhauen habe, weiß ich. Dass ich aber nicht allein daran Schuld bin, weiß ich auch. Mich haben sie falsch geboren“, schreibt Tucholsky am 19. Dezember 1935 in einem Brief an seine letzte Geliebte Hedwig Müller. Zwei Tage später stirbt er an einer Überdosis aus Schlaftabletten und Alkohol in einem Göteborger Krankenhaus; ob es Absicht war oder ein Unfall kann nie endgültig geklärt werden. Bereits 1923 hat er unter dem Pseudonym Ignatz Wrobel in seiner Satire „Requiem“ folgenden Grabspruch für sich erdacht: „HIER RUHT EIN GOLDENES HERZ UND EINE EISERNE SCHNAUZE. GUTE NACHT –!“. Seinen Grabstein, nahe Schloß Gripsholm ziert jedoch ein anderer. Tucholsky hinterlässt ein Werk von mehr als 2.500 Texten.
Am 9. Januar 1890, heute vor 121 Jahren, erblickte der Journalist und Schriftsteller mit den 5 PS das Licht der Welt.
In den letzten Wochen habe ich gelegentlich über Tucholskys Treppe nachgedacht. Sicher war sie bedingt durch die Lebensumstände seiner letzten Jahre auch ein Zeichen der Resignation. Aber was vermag Sprache wirklich? Nicht selten bin ich in den letzten Monaten an die Grenze meiner Ausdrucksfähigkeit gestoßen; allzu oft fehlen mir die richtigen Worte, um Gedanken und Gefühle wirklich auf den Punkt zu bringen. Es ist ein ewiges Ringen um Genauigkeit.
Allzu oft war ich geneigt, die Treppe umzudrehen: Schweigen – Sprechen – Schreiben. Das schafft Luft zum Nachdenken und ich hoffte, mich dadurch besser ausdrücken zu können. Ein Irrtum. „Schreiben statt Reden“ hat vieles in meinem Leben nicht einfacher gemacht. Ganz im Gegenteil: Missverständnisse, die im persönlichen Gespräch wohl sofort hätten ausgeräumt werden können, wurden durch die Schriftform manifestiert.
Konfrontiert mit der Unzulänglichkeit der eigenen Worte wächst in mir die Erkenntnis, dass Sprache auch immer Scheitern bedeutet. Insofern wäre das Schweigen in der Tat eine mögliche Konsequenz. (Im Übrigen hadere ich gerade damit, ob oder in welcher Form ich dieses Weblog weiterführen werde.)
„Das Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere
Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung (…) Seine
Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindlichkeit
so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen,
aber dazu Gesellschaft brauchen (…) Die Gäste des Central kennen,
lieben und gering schätzen einander (…) Es gibt Schaffende, denen nur
im Central nichts einfällt, überall anderswo weit weniger (…)“
Naturgemäß ist es eine Illusion, zu denken, man könne samstagsnachmittags ins Sankt Oberholz gehen, um ein bißchen zu arbeiten. Zwischen all den backpackenden Touristengruppen ist kein klarer Gedanke zu fassen – nicht einmal ein ganz einfacher. Flüchtig bekannte Gesichter werden vom fahlen Licht der Hintergrundbeleuchtung ihrer mobilen Rechner angestrahlt. Es sind lediglich die am Wochenende verschlossenen Türen unserer Büros und die Einsamkeit an unseren Schreibtischen zuhause, die uns heute an diesen Ort treiben.
Und während ich Zucker in meinen Espresso rühre, frage ich mich, wie es Alfred Polgar ergangen wäre, hätte man seinen Apfelstrudel durch öffentliches WLAN ersetzt.
Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
(Hermann Hesse, Stufen)
Morgens auf dem Weg zur Arbeit sitzt mir in der Tram ein Mann gegenüber: Er ist etwa Ende dreißig und liest HessesSteppenwolf. Zwanzig Jahre zu spät, denke ich. Hesse muss man lesen, wenn man jung ist.
Kurz vor dem Büro: mehr als hundert Stufen. Während ich die Treppen erklimme, gedenke ich einer längst verflossen Liebschaft. Es ist schon lange her – damals las ich Hesse noch mit Vergnügen. Wir schickten einander Gedichte. Unvermeidlich: Hesses Stufen. Eigentlich auch heute noch ein ganz schönes Gedicht (wenn man einmal von dem Quatsch mit dem Weltgeist absieht).
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